Heidi und andere klassische Kindergeschichten
auffuhren, an dem sie eben in Gemütlichkeit gesessen und sich über ihre Kinder unterhalten hatten, und die alte Trine in strafendem Tone oben zum Fenster hinausrief: »Was ist das für eine Manier!«
»Es ist ein großes Unglück begegnet«, tönte es von unten herauf; »der Herr Oberst soll doch herunterkommen, sie haben den Schreiner Andres tot gefunden.«
Damit lief der Bote wieder davon. Der Oberst und seine Frau hatten genug gehört, denn auch die hatten sich dem offenen Fenster genähert. Augenblicklich warf der Oberst seinen Mantel um und eilte dem Hause des Schreiners zu. Als er in die Stube hineintrat, fand er schon eine Menge Leute da; man hatte den Friedensrichter und Gemeindammann geholt, und eine Schar Neugieriger und Teilnehmender war mit ihnen eingedrungen. Andres lag am Boden im Blute und gab kein Lebenszeichen von sich; der Oberst näherte sich.
»Ist denn jemand nach dem Doktor gelaufen?« fragte er, »hier muß vor allem der Doktor her.«
Es war niemand dahin gegangen; da sei ja doch nichts mehr zu machen, meinten die Leute.
»Lauf, was du kannst, zum Doktor«, befahl der Oberst einem Burschen, der dastand; »sag ihm, ich lass’ ihn bitten, er soll auf der Stelle kommen.« Dann half er selbst den Andres vom Boden aufheben und in die Kammer hinein auf sein Bett legen. Erst jetzt trat der Oberst an die schwatzenden Leute heran, um zu hören, wie der Vorfall sich zugetragen hatte, ob jemand etwas Näheres wisse. Der Müllerssohn trat vor und erzählte, er sei vor einer halben Stunde da vorbeigekommen, und da er noch Licht gesehen in des Schreiners Stube, habe er im Vorbeiweg schnell fragen wollen, ob seine Aussteuersachen auch zur Zeit fertig werden. Er habe die Tür der Stube offen stehend, den Andres tot im Blut liegend am Boden gefunden. Der Matten-Joggi, der dabeistand, habe ihm lachend ein Goldstück entgegengestreckt, wie er hereingetreten sei. Er habe dann nach Leuten gerufen, daß der Gemeindammann auf den Platz komme und wer sonst noch dahin gehöre.
Der Matten-Joggi, der so hieß, weil er unten in der Matte wohnte, war ein völlig törichter Mensch, der damit ernährt wurde, daß ihn die Bauern in den geringen Geschäften etwa mithelfen ließen, wo Steine und Sand herumzutragen, Obst aufzulesen, oder im Winter Holzbündelchen zu machen waren. Daß er boshafte Taten ausgeübt hätte, hatte man bis jetzt nicht gehört. Der Müllerssohn hatte ihm gesagt, er solle da bleiben, bis auch der Präsident noch da sein werde. So stand Joggi noch immer in einer Ecke, hielt seine Faust fest zugeklemmt und lachte halblaut. Jetzt trat der Doktor in die Stube und hinter ihm her auch noch der Präsident. Der Gemeindevorstand stellte sich nun mitten in die Stube und beratschlagte. Der Doktor ging direkt in die Kammer hinein und der Oberst folgte ihm nach. Der Doktor untersuchte genau den unbeweglichen Körper.
»Da haben wir’s«, rief er auf einmal aus, »hier auf den Hinterkopf ist Andres geschlagen worden, da ist eine große Wunde.«
»Aber er ist doch nicht tot, Doktor, was sagst du?«
»Nein, nein, er atmet ganz leise, aber er ist bös dran.«
Nun wollte der Doktor allerlei haben, Wasser und Schwämme und Weißzeug und noch vieles, und die Leute draußen liefen alle durcheinander und suchten und rissen alles von der Wand und aus dem Küchenkasten und brachten Haufen von Sachen in die Kammer hinein, aber nichts von dem, was der Doktor brauchte.
»Da muß eine Frau her, die Verstand hat und weiß, was ein Kranker ist«, rief der Doktor ungeduldig. Alle schrieen durcheinander; aber wenn einer eine wußte, so rief ein anderer: »Die kann nicht kommen.«
»Lauf einer auf die Halde«, befahl der Oberst, »meine Frau soll mir die Trine herunterschicken!« Es lief einer davon.
»Deine Frau wird dir aber nicht danken«, sagte der Doktor, »denn ich lasse die Pflegerin drei bis vier Tage und Nächte nicht von dem Bett weg.«
»Sei nur unbesorgt«, entgegnete der Oberst, »für den Andres gäbe meine Frau alles her, nicht nur die alte Trine.«
Keuchend und beladen kam die Trine an, viel schneller, als man hätte hoffen können, denn sie stand schon lange ganz parat mit einem großen Korb am Arm, und die Frau Oberst stand neben ihr und lauschte, ob einer gelaufen komme. Sie hatte nicht annehmen können, daß der Andres wirklich tot sei, und hatte alles ausgedacht, was man brauchen könnte, um ihm wieder aufzuhelfen. So hatte sie Schwamm und Verbandzeug, Wein und Öl und warme Flanelle in einen
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