Heidi und andere klassische Kindergeschichten
denn manchmal gab es dabei einen großartigen Umsturz sämtlicher Schlitten und Menschen darauf; das konnte er für das kleine Wesen nicht riskieren. Er ließ seinen Schlitten zuletzt anbinden, der Miezchens aber wurde freigelassen. So fuhr es, wie immer, hinter dem Bruder her, nur konnte er jetzt nicht, wie sonst, seinen Schlitten langsamer fahren lassen, wenn Miezchen zurückblieb, denn er war in der Gewalt des Zuges. Jetzt ging es los, und herrlich und ohne Anstand glitt die lange, lange Kette die glatte Bahn hinunter.
Mit einem Mal hörte Otto ein ganz furchtbares Geschrei, und er kannte die Stimme wohl, die es ausstieß, es war Miezchens Stimme. Was war da geschehen? Otto hatte keine Wahl, er mußte die Lustpartie zu Ende machen, wie groß auch sein Schrecken war. Aber kaum unten angelangt, riß er sein Schlittenseil los und rannte den Berg hinan; alle anderen hinter ihm drein, denn fast alle hatten das Geschrei vernommen und wollten auch sehen, was los war. An der halben Höhe des Berges stand das Miezchen neben seinem Schlitten und schrie aus allen seinen Kräften und weinte ganze Bäche dazu. Atemlos stürzte Otto nun herzu und rief: »Was hast du? Was hast du?«
»Er hat mich – er hat mich – er hat mich«, schluchzte Miezchen und kam nicht weiter vor innerem Aufruhr.
»Was hat er? Wer denn? Wo? Wer?« stürzte Otto heraus.
»Der Mann dort, der Mann, er hat mich – er hat mich totschlagen wollen und hat mir – und hat mir – furchtbare Worte nachgerufen.«
So viel kam endlich heraus unter immer neuem Geschrei.
»So sei doch nur still jetzt, hör’ Miezchen, tu’ doch nicht so, er hat dich ja doch nicht totgeschlagen; hat er dich denn wirklich geschlagen?« fragte Otto ganz zahm und teilnehmend, denn er hatte Angst.
»Nein«, schluchzte Miezchen, neuerdings überwältigt; »aber er wollte, mit einem Stecken, – so hat er ihn aufgestreckt und hat gesagt: ›Wart du!‹ Und ganz furchtbare Worte hat er mir nachgerufen.«
»So hat er dir eigentlich gar nichts getan«, sagte Otto und atmete beruhigt auf.
»Aber er hat ja – er hat ja – und ihr wart alle schon weit fort, und ich war ganz allein«, – und vor Mitleid für seinen Zustand und nachwirkendem Schrecken brach Miezchen noch einmal in lautes Weinen aus.
»Bscht! Bscht!« beschwichtigte Otto; »sei doch still jetzt, ich gehe nun nicht mehr von dir weg, und der Mann kommt nicht mehr, und wenn du nun gleich ganz still sein willst, so geb’ ich dir den roten Zuckerhahn vom Christbaum, weißt du?«
Das wirkte. Mit einem Male trocknete Miezchen seine Tränen weg und gab keinen Laut mehr von sich, denn den großen, roten Zuckerhahn vom Christbaum zu erlangen, war Miezchens allergrößter Wunsch gewesen, er war aber bei der Teilung auf Ottos Teil gefallen und Miezchen hatte den Verlust nie verschmerzen können. Wie nun alles im Geleise war und die Kinder den Berg hinanstiegen, wurde verhandelt, was es denn für ein Mann könne gewesen sein, der das Miezchen habe totschlagen wollen.
»Ach was, totschlagen«, rief Otto dazwischen; »ich habe schon lange gemerkt, was es war, wir haben ja im Herunterfahren den großen Mann mit dem dicken Stock auch angetroffen, er mußte unseren Schlitten ausweichen in den Schnee hinein, das machte ihn böse, und wie er dann hintenan das Miezi allein antraf, hat er es ein wenig erschreckt und seinen Zorn an ihm ausgelassen.«
Die Erklärung fand allgemeine Zustimmung, das war ja so natürlich, daß jedes meinte, es sei ihm selber so in den Sinn gekommen; so ward auch die Sache gleich völlig vergessen und lustig drauf los geschlittet. Endlich aber mußte auch dies Vergnügen ein Ende nehmen, denn es hatte längst acht Uhr geschlagen, die Zeit, da aufgebrochen werden sollte. Im Heimweg schärfte der Otto dem Miezchen ein, zu Hause nichts zu erzählen von dem Vorfall, sonst könnte die Mutter Angst bekommen, und dann dürften sie gar nie mehr im Mondschein schlitten gehen: den Zuckerhahn müsse es gleich haben, aber noch daraufhin versprechen, nichts zu erzählen. Miezchen versprach hoch und teuer, kein Wort sagen zu wollen; die Spuren seiner Tränen waren auch längst vergangen und konnten nichts mehr verraten.
Längst schon schliefen Otto und Miezchen auf ihren Kissen, und der rote Zuckerhahn spazierte durch Miezchens Träume und erfüllte sein Herz mit einer so großen Freude, daß es jauchzte im Schlaf. Da klopfte es unten an die Haustür mit solcher Gewalt, daß der Oberst und seine Frau vom Tisch
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