Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Der Stecken bleibt in der Luft, und Miezchen geht als kleine Artischocke nach Hause. Jetzt wollen wir gleich anstoßen auf alle wohlgeratenen Artischocken und auf des Schreiners Andres Gesundheit!«
Damit hob der Vater sein Glas, und die Tischgesellschaft stimmte ein. Es standen aber alle ein wenig still vom Tisch auf, denn in jedem waren allerlei schwere Gedanken aufgestiegen, nur der Vater blieb unangefochten, setzte sich zu seiner Zeitung und steckte eine Zigarre an. Otto schlich ins andere Zimmer hinüber, drückte sich in eine Ecke und dachte darüber nach, wie es sein werde, wenn alle anderen wieder im Mondschein schlitten würden und er nie mehr dabei sein dürfte, denn er wußte, daß die Mutter dies von nun an verbieten würde. Miezchen kroch ins Schlafzimmer hinein, kauerte sich neben dem Bett auf das Schemelchen nieder, nahm den roten Zuckerhahn auf den Schoß und war sehr traurig, daß es ihn zum letzten Male sehen sollte. Die Mutter blieb eine Zeitlang stumm und sinnend am Fenster stehen und bewegte Gedanken in ihrem Herzen hin und her, die sie immer mehr und aufregender beschäftigen mußten, denn jetzt fing sie an, im Zimmer hin und her zu gehen, und plötzlich verließ sie es und lief hierhin und dahin, nach dem Miezchen suchend. Sie fand es endlich noch hinter seinem Bett auf dem Schemel sitzend, in seine traurigen Betrachtungen versunken.
»Miezchen«, sagte die Mutter, »jetzt erzähl mir recht, wo und wann ein Mann dir drohte, und was er dir nachgerufen hat.«
Miezchen erzählte, was es wußte, es kam aber nicht viel mehr heraus, als es schon gesagt hatte. Nachgerufen hatte ihm der Mann das Wort, das der Papa über Tisch gesagt hatte, behauptete es. Die Mutter kehrte in das Zimmer zurück, wo der Vater saß, ging gleich zu ihm heran und sagte in erregtem Ton:
»Ich muß es dir wirklich sagen, es kommt mir immer wahrscheinlicher vor.«
Der Oberst legte seine Zeitung weg und schaute erstaunt seine Frau an.
»Siehst du«, fuhr diese fort, »die Szene am Tisch hat mir mit einem Male einen Gedanken erweckt, und je mehr ich ihn verfolge, je fester gestaltet er sich vor meinen Augen.«
»Setz dich doch und teil mir ihn mit«, sagte der Oberst, ganz neugierig geworden. Seine Frau setzte sich neben ihn hin und fuhr fort:
»Du hast Miezchens Aufregung gesehen, sie war sichtlich erschreckt worden von dem Mann, von dem sie sprach, es war nicht Spaß gewesen: darum ist es klar, daß er das Kind nicht ›Artischocke‹ genannt hat. Wird er es nicht viel eher ›Aristokratin‹ oder ›Aristokratenbrut‹ genannt haben? Du weißt, wer uns vorzeiten diesen Titel nachrief, meinem Bruder und mir. Diesen Augenblick habe ich von Miezchen gehört, daß der Vorfall sich an dem Abend ereignet hatte, da die Kinder im Mondschein auf der Schlittbahn waren. An demselben Abend noch wurde Andres halb erschlagen gefunden. Seit Jahren war der unheimliche Jörg verschwunden, und im ersten Augenblick, da man wieder Spuren von ihm hat, geschieht die Gewalttätigkeit an seinem Bruder, dem kein anderer je etwas zuleide getan hat, als er. Macht dir das nicht auch Gedanken?«
»Wahrhaftig, da könnte was dran sein«, entgegnete der Oberst nachdenklich; »da muß ich sofort handeln.«
Er stand auf, rief nach seinem Knecht, und wenige Minuten nachher fuhr er im scharfen Trab zur Stadt hinunter. Von da an fuhr der Oberst jeden Tag einmal nach der Stadt, um zu hören, ob Berichte eingegangen seien. Am vierten Tage, als er nach Hause kam am Abend und seine Frau noch an Miezchens Bett verweilte, ließ er sie schnell rufen, denn er hatte ihr Wichtiges zu erzählen. Sie setzten sich dann zusammen, und der Oberst teilte seiner Frau mit, was er in der Stadt vernommen hatte. Auf seine Aussagen hin hatte die Polizei sogleich heimlich nach dem Jörg gesucht, und er war ohne große Mühe gefunden worden, denn er war ganz sicher, daß kein Mensch ihn gesehen hatte, da er nur des Nachts in sein Dorf gekommen und gleich wieder verschwunden war. So war er zunächst nur nach der Stadt hinuntergegangen und hatte sich in den Wirtshäusern herumgetrieben. Als er nun festgenommen und verhört wurde, leugnete er zuerst alles; als er aber hörte, der Oberst Ritter habe schlagende Beweise gegen ihn vorzubringen, da entfiel ihm der Mut, denn er dachte, der Herr Oberst müsse ihn gesehen haben, sonst wäre es unmöglich, daß er gerade auf ihn geraten hätte, da er frisch aus neapolitanischen Kriegsdiensten zurückgekommen war. Daß ein einziges Wort,
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