Heidi und die Monster
Rättlein auf seine Hand und ließ es zwischen den weißen Brötchen im Halstuch verschwinden. Es band einen festen Knoten, damit das Tier unterwegs nicht heraussprang, und machte sich auf den Weg.
Auf der breiten Treppe traf es gleich auf ein Reisehindernis in Person von Fräulein Rottenmeier. Es war zur Stunde, wenn gewöhnlich der Kandidat ins Haus trat, darum guckte das Fräulein durch seine Brille und sagte: »Was ist das für ein Aufzug? Habe ich dir nicht verboten, außerhalb deines Zimmers herumzuschleichen? Nun versuchst du’s doch und siehst zudem aus wie eine Landstreicherin!«
»Ich schleich nicht, ich geh jetzt heim«, entgegnete Heidi.
»Wie? Was?« Fräulein Rottenmeier presste die Fingerspitzen gegeneinander. »Fortlaufen willst du? Dieser Undank!
Wenn das Herr Sesemann wüsste! Wirst du in seinem Hause nicht besser behandelt, als du verdienst? Nichts fehlt dir, und vor lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch anstellen sollst!«
Da brach aus Heidi alles hervor, was in ihm festgestockt war. »Heim will ich, weil jetzt die Zeit ist, wo Bärli und Schwänli auf die Alm sollen! Die Großmutter erwartet die Brötli, und der Peter will mir seine Ruten zeigen! Hier kann man nie sehen, wie die Sonne gute Nacht sagt zu den Bergen, und der Raubvogel krächzt nie über Frankfurt, obwohl es viel zu krächzen gäbe an einem Ort, wo die Menschen böse beisammenhocken, statt auf die Felsen zu steigen, wo sie friedlich sind!«
»Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!«, rief Fräulein Rottenmeier und stürzte hinunter, wo sie Trojan holen wollte, damit er das Kind zur Besinnung brächte.
Dabei rannte sie unsanft mit einem zusammen, der gerade das Haus betrat. Beim ersten Hinschauen hätte man ihn für den Herrn Kandidaten halten können. Er trug einen ähnlichen Gehrock und einen steifen Hut auf dem Kopf. Doch war ein himmelweiter Unterschied zwischen jenem und dem schwächlichen Studiosus, der, um die Wahrheit zu sagen, zur gleichen Zeit mit gebrochenem Genick am Ufer des Maines lag.
»Was hat das Kind angestellt?« Der Fremde schaute hinter dunklen Brillengläsern hervor, die hatte er gegen die Frühlingssonne aufgesetzt. Sein Blick haftete auf Heidi, das unbeweglich auf der Treppe stand. Gewinnend lächelte er das Kind an.
Fräulein Rottenmeier machte den Mund auf und wieder
zu und wollte eben fragen, wie ein Fremder so mir nichts, dir nichts ins Haus eindringen konnte, da lüftete der Ankömmling mit höflicher Geste den Hut.
»Gestatten, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Marus, ich bin der Studienkolleg Ihres Herrn Kandidaten, der mit einer nicht ungefährlichen Infektion zu Bett liegt und mich gebeten hat, seine Vertretung zu übernehmen.«
»Infektion?«, fragte die Rottenmeier alarmiert. »Er wird doch mit keinem Wiederkehrer in Kontakt geraten sein?«
»Ich kann Ihnen versichern, dass sein Leiden harmlos ist, trotzdem sieht er sich außerstande, den Unterricht in den kommenden Tagen abzuhalten.«
»Und er selbst?« Das Fräulein musterte den Fremden von oben bis unten. »Wer sagt mir, dass er sich an seinem Studienkollegen nicht angesteckt hat und mir eine Seuche ins Haus bringt? Wer ist er überhaupt, was hat er für Referenzen?«
Nun schob der, der sich Marus nannte, eine Hand in die Brusttasche, als wolle er ein Empfehlungsschreiben hervorziehen, dabei beugte er sich zum Fräulein und flüsterte etwas in dessen Ohr. Es waren nur wenige Silben von fremdem Klang und in hiesiger Sprache unbekannt, doch veränderten sie das Verhalten der Rottenmeier von Grund auf.
»Ich verstehe«, sagte sie, und ein ungewohnter Glanz trat in ihre Augen. »So sind Sie demnach unser neuer Kandidat.«
»Als solcher möchte ich mich sogleich erkundigen, welchen Ärger es mit der Tochter des Hauses gibt?«
»O nicht doch«, entgegnete das Fräulein. »Das ist nicht Klara Sesemann. Das ist ein freches, undankbares Geschöpf, das zudem seinen Verstand verloren hat.«
»Nichts hab ich verloren!«, rief Heidi von der Treppe aus.
»Hab alles wohl eingepackt!« Es hob sein geschnürtes Bündel und sah dem neuen Kandidaten unverwandt in die Augen. Denn, ob es wollte oder nicht, der Herr erinnerte Heidi an jemanden, dem es einmal begegnet war. Doch brachte es das Gesicht nicht in Verbindung mit dem würdigen älteren Herrn, der im Winter das Dörfli aufgesucht und kurz mit Heidi gesprochen hatte. Professor Marus, denn um niemand anderen handelte es sich, war nämlich in der Lage, sein Äußeres nicht
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