Heidi und die Monster
meinte. »Mit mir ifft’f vorbei«, nickte er traurig.
»Wann bist du gebissen worden?« Sie betrachtete den unteren Teil seines Gesichts, das nur noch aus Kieferknochen und ein paar Zähnen bestand. Da überkam das Kind große Traurigkeit.
»Vorgefftern«, antwortete er. »Ich bin verdammt, aber ein Wiederkehrer werde ich dennoch nicht ffein.«
»Was willst du dagegen tun?« Heidi spürte, wie ihm die Tränen die Wangen hinunterrollten.
»Da kann man nichtff tun.«
Es wurde still in der Turmkammer; im roten Kleid stand Heidi im Wind, gegenüber hockte der unglückselige Junge.
»So steigen wir wieder hinunter?«, fragte es nach einer Weile.
»Geh nur.« Er winkte mit knöcherner Hand. »Ich komm dir gleich nach.«
Nachdenklich kletterte es die steilen Stufen hinab. Wie traurig doch alles gekommen war, wie unglücklich ihr alles schien, was sie bisher in Frankfurt erlebt hatte.
Während Heidi durch das Gemäuer abwärts trottete, bemerkte es nicht, wie der Junge, dessen Schicksal besiegelt und dessen Hoffnung, menschlich zu bleiben, erloschen war, sich aus dem Turmfenster in die Tiefe stürzte. Zu seinem Glück wurde er so vollends zerschmettert und in mehrere Teile zerrissen, dass ihm das Schicksal, hinfort als Unaussprechlicher zu wandeln, erspart blieb.
Als Heidi den Abstieg beinahe beendet hatte und durch die Mauerlücke hinausschlüpfen wollte, entdeckte es in einer Nische einen Korb, der sich bewegte. Der Korb war ein altes, geflochtenes Ding, in dem früher einmal der Mesner während des Gottesdienstes die Almosen für die Bedürftigen gesammelt hatte; die Gläubigen hatten Brot oder ein Stück Kuchen gespendet. Eines Tages war der Henkel gebrochen, da hatte der Mesner den Korb in den baufälligen Turm verbannt. Dort hatte er wegen der verbleibenden Brotkrumen bald allerlei Viehzeug angelockt. Heidi trat an den Korb und brach in großes Entzücken aus.
»O ihr netten Tierlein!«, rief es und freute sich, die komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die zehn oder zwanzig jungen Ratten vollführten, die rastlos übereinander krabbelten.
»Ich will eins haben!«, sagte es, da es glaubte, der Junge sei ihm dicht auf dem Fuß. »Ich möchte es nur für mich.«
Es fasste in den Korb und wollte das hübscheste Rattenkind ergreifen, da schoss die Rättin heran und fiepte und wollte Heidi ihre Zähne ins Fleisch schlagen.
»Nicht so böswillig«, lachte es und zog die Hand blitzschnell zurück. Dass man einem Muttertier sein Junges schwerlich entreißen konnte, wusste es wohl. Es suchte in seinen Taschen, ob es nichts Essbares dabeihätte, und fand das weiße Brötchen vom gestrigen Mittagstisch.
»Die Großmutter mag mir verzeihen.« Heidi brach ein Stück ab. »Morgen, wenn’s wieder Brötchen gibt, schaff ich ihr ein frisches.« Sie hielt ihren Krumen in die Nähe der Rättin; wirklich schnupperte das Vieh und ließ sich aus dem Korb locken.
»Hol’s dir!«, rief das gewitzte Kind und warf das Stückchen in die Ecke. Die hungrige Ratte war gleich hinterher.
Heidi fasste zum zweiten Mal in den Korb, schon hatte es ein schwarzweiß geschecktes Rättlein in Händen. Das gefiel ihm so gut, dass es das zappelnde blinde Tier gleich ans Herz drückte.
»Du sollst es gut bei mir haben. Denk nur, wie viel Platz im Haus Sesemann zum Herumflitzen ist, was für Herrlichkeiten es dort zu futtern gibt.« Da Heidi die Rache der Rattenmutter fürchtete, steckte es das Junge in seine Kitteltasche. Darin war es warm, weshalb das Tier gleich Ruhe gab und sich wohl fühlte.
Wie sollte Heidi wissen, dass es ein gefährliches Wesen in Obhut genommen hatte. Auf der Alp gab es kaum Ratten, nur Mäuse, die dem Großvater die Getreidesäcke annagten. Dass die Ratte zu allen Zeiten Krankheiten übertragen hatte, war dem Kind unbekannt. Und so trug Heidi ahnungslos kein niedliches Haustier heim, sondern eine Bestie, die den Keim der Pestilenz in ihrem Blut beherbergte.
»Jetzt gehen wir zurück in das große Haus«, sagte es,
schaute noch einmal nach oben, wo der Junge blieb, machte sich aber weiter keine Gedanken und lief zu der Lücke im Mauerwerk.
Kaum war es aus der Kirche geschlüpft, als starke Männerarme es packten, festhielten und hochhoben. Heidi schrie, weil es glaubte, von einem Unaussprechlichen angefallen zu werden. Passanten drehten sich um, machten aber keine Anstalten, zu helfen.
»Ruhig, nur ruhig«, sagte ein mächtiger Kerl, das war gottlob Trojan, der Heidis kleinen Spuren im Schnee bis
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