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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Gesellschaft saß von der Kirchhofsmauer flankiert im unebenen Pastorengarten, die Tische mit den Knien vorm Wackeln bewahren, und saß und saß, obwohl es kühl wurde und immer kühler und die Pastorenfrau schon wieder in die Küche strebte, denn das Abendbrot wollte ja auch irgendwann gerichtet sein. In diesem Garten hatten die Pastoren und ihre Freunde schon vor hundert Jahren Kaffee und Kuchen zu sich genommen.

    Matthias überlegte, ob er den Leuten nicht ein wenig aus der Hand lesen sollte? Bei Fitschen hatte das gute Wirkung gezeitigt. Aber lieber nicht, so etwas kann man auch mißverstehen. Er verabschiedete sich von der Runde.
    Als er Denny die Hand gab, setzte Matthias sein gewinnendstes Lächeln auf. Er sah extrem jungenhaft aus an diesem Nachmittag. Ob sie sich nicht mal treffen könnten?, fragte er sie, und in seiner Vorstellung wechselte blitzschnell eine Bildfolge, eine Ebereschenallee sah er sich entlangradeln mit ihr, im Wald mit Rotkäppchenkorb beieinandersitzen und Wurstbrote essen und hartgekochte Eier. Einen Apfel nimmt sie und läßt ihn abbeißen. Auch sein Zimmer sah er, aber das Bett war leer.
    «Hat kein’ Zweck», sagte die junge Engländerin, deren Vater jetzt gewiß in einem englischen Pub saß und ein Bier ohne Blume trank. Daß Matthias schon dreißig war, hatte sie mitgekriegt, da nützte auch die jungenhafte Haarsträhne nichts, und der Strohhut, der ihm so keck im Nacken saß, riß dieses Manko nicht heraus. Der Pastor brachte ihn an die Pforte. Ob er wisse, daß Carla Freede verlobt sei?, sagte er väterlich. Nach Osterdieck, ein junger Bauer dort? Wisse er das? Ja? – Und dann zog er ihn an seine Brust und brummelte was, daß er noch was auf dem Herzen habe, ein Hühnchen zu rupfen sei zuviel gesagt, aber das habe Zeit, bei Gelegenheit…

    Matthias fuhr nach Haus, und er dankte dem lieben Gott, daß es zu keiner Verabredung gekommen war mit dem Mädchen. Ein von Slang entstellter Mund und alttätsche Schuhe?
    Aber dann stand er doch mitten in seinem leeren Zimmer. Ein Sonntagabend auf dem Lande. Gott, was war da zu machen?
    Er legte sich aufs Bett und stellte sich die Frage: Noch fünfunddreißig Jahre auf dem Lande leben? In Klein-Wense? Im Frühjahr über den Maikäfer sprechen, Unterrichtsfilm E 65, Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte? Aufsätze schreiben lassen über das Anzünden einer Kerze? Wie Rennenfranz auf der Diele sitzen und Blumenstücke malen?

    Er nahm seine Posaune und blies sich ein trauriges Stückchen. In den Spiegel guckte er dabei, und das machte sich eigentlich ganz gut.
    Dann setzte er sich in sein Wolkenzimmer. Die große Himmelsvorstellung hatte gerade begonnen. Der glühende Ball war verschwunden, und der Horizont färbte sich zart orange.
    «Das sind Jüngstes-Gericht-Wolken», sagte er zu sich, und er dachte an die Stockschläge, die er den drei Jungen verpaßt hatte. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

    Er saß genau unter dem Balken, an dem damals der junge Lehrer den Strick festgemacht hatte, aber das wußte er ja nicht. Hier seine Dachkammer mit Tisch, Bett und Stuhl, da unten die Wohnung, der Garten mit Laube und siebenundzwanzig Kinder jeden Tag.

    Als die Himmelsvorstellung fast beendet war, wurde die Tür aufgeschrammt. Es war Carla.
    «Darf man stören?»sagte sie.«Ah, Schummerstündchen!»Kalten Braten hatte sie mitgebracht und eine Flasche Bier. Sie fand den Abendhimmel auch ganz schön, und als Wolken und Röte in sich zusammengesunken waren, aßen sie den Braten. Sie erzählte von ihrem Freund, dem landwirtschaftlichen Eleven, daß der immer keinen Urlaub kriegt. Und dann fielen sie hintenüber aufs Bett, und es gab ein knöchernes Gerangel. Etwas Kindliches ging von ihr aus, aber Erfahrungen hatte sie auch schon gesammelt, das war zu merken.
    «Is eig’tlich nich in Ordnung, nich?»sagte sie beim Abschied.

28

    D er zweite Besuch im Kallroy-Haus stand unter einem ungünstigen Stern. Es ging damit los, daß ihm die Tante die Tür öffnete, ganz in Schwarz, mit nassen, hängenden Haaren.
    «Was wollen Sie?»fragte sie:«Hier ist nix.»
    Matthias hatte damit zu tun, ihr klarzumachen, daß er kein ungarischer Student sei, der Zeitungen verkauft oder wie oder was, sondern daß er ihre Nichte besuchen will, weil er nämlich eingeladen worden ist. Hätte nicht viel gefehlt, und er hätte seinen Ausweis gezeigt.
    Da knallte auch schon die Tür der Halle auf und Ellinor erschien, ziemlich

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