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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wütend, drängte die Tante zur Seite:«… ist schon in Ordnung, Tante, geh man nach oben, da steht dein Tee…»
    Die Tante machte keine Anstalten, sie kratzte sich am Rücken und ward an sich selbst irre: Ein junger Mann steht in der Tür und will eingelassen werden? Und obwohl sie Matthias schon einmal gesehen hatte, schien sie möglicherweise zu denken: Ist denn mein Bruder zurückgekehrt? Ernst Werner? Nach so langer Zeit? Und vielleicht dachte sie: Leben denn die Eltern noch? Und sie guckte die Straße hinunter, ob sie vielleicht am Zaun stehen und ihr freundlich zunicken – endlich seid ihr wieder da…
    Ellinor schob die alte Frau zur Seite, nahm sie unter den Arm und ging mit ihr nach oben und schalt sie aus, daß sie zur Tür gegangen war, seit wann das denn die neueste Sitte ist, sie kümmert sich doch sonst um nichts?

    «Das geht nun schon seit fünfzehn Jahren so», sagte sie zu Matthias, der seine Schuhe abstrich, seufzte ein bißchen und nahm ihn mit nach vorn in die von Sonnenlicht schräg beleuchtete Halle. Die Bilder, die hier hingen, wirkten durch das helle Licht wie«aufgetan». Links und rechts in die Nebenzimmer, deren Türen offenstanden, drang auch Sonne, es war ein Gefühl, als sei die alte Zeit zurückgekommen, es roch nach frischen Ölfarben und nach Firnis, und beinahe hätte man meinen können, es spielte jemand Geige, irgendwo in dem großen Haus.
    Aber in diesen Räumen war schon lange nicht mehr gemalt worden, und Geige hatte hier noch niemals einer gespielt.

    Im Erker traf Matthias auf einen jüngeren Mann, ziemlich klein von Wuchs, aber«drahtig», gutgelaunt, mit offenem Kragen.«Das ist Herr Säckel aus Karlsruhe», sagte Ellinor und, auf Matthias weisend, den sie als einen guten Freund bezeichnete:«Dies ist unser Schulmeister.»
    Die beiden Männer grinsten ein wenig und schüttelten einander die Hand, und dann nahmen sie auf den quietschenden Korbmöbeln Platz, direkt gegenüber dem Porträt des Ernst Werner von Kallroy, der sie mit Hut auf dem Kopf und mit Schlips unterm Pullover ernst ansah. Im KZ umgekommen, was eigentlich nicht hätte sein müssen. Einen gemalten Lichtschalter direkt neben dem Kopf, und ein richtiger Lichtschalter daneben an der Wand. Einen Stock höher legte sich in diesem Augenblick die Tante auf den Fußboden, das Ohr am Parkett, die wollte hören, was sich hier unten tut.

    Tee wurde eingeschenkt, Kluntje und Sahne, Plätzchen herumgereicht, Jacques Loussier aufgelegt, und Herr Säckel, der Alfons mit Vornamen hieß, sagte lachend:«Sie sind also ein richtiger Dorfschulmeister? »Und Sonnenblumen gingen in seinem Gehirn auf, wie Regenschirme, die man aufspannt, von Bienen umschwirrt. Ob das nicht absolut infantil ist, sich in eine heile Welt zurückzuziehen, aufs Dorf? Während draußen Menschen im Weltall herumfliegen, in einer kleinen Schule Dorfkinder zu unterrichten, in einer Zwergschule, wie zu Anno dunnemals Zeiten?
    Er wisse noch, in der Nachkriegszeit, in Thüringen, in dem Kaff, in dem sie als Flüchtlinge gelebt hätten, daß der Lehrer dort ständig besoffen war, ein dicker Kerl mit rotem Kopf, und die Kinder reihenweise verprügelt. Auch er sei maulschelliert worden, diverse Male. – Wollte er denn nun Matthias dafür verantwortlich machen.

    Alfons Säckel führte in Karlsruhe eine Künstlerexistenz, er fristete sein Leben mit Aushilfsstunden in der Volkshochschule, wo er Krankenschwestern beibrachte, wie man aus Wellpappe Bildwerke herstellen kann, die verschieden aussehen, je nachdem, von wo aus man sie betrachtet.
    Sie machten sich ja keine Vorstellungen davon, wie begeistert die Krankenschwestern sind, daß er sie nicht immer bloß Linolschnitte fabrizieren läßt, wie das bei den regulären Dozenten der Volkshochschule gang und gäbe sei, sondern sich an das taktile Vermögen dieser Menschen wende: Wellpappe! Neulich erst sei der Volkshochschuldirektor zu ihm gekommen, an sich ein Dünnmann der Sonderklasse, der hätte gesagt: Es ist toll, was Sie aus den Damen herausholen!

    Ellinor hatte ein Glänzen in den Augen, als sie das so hörte, und sie strich links und rechts über ihre Unterarme, sie war stolz darauf, daß ihr Gast sich um Krankenschwestern bemühte, Menschenkinder, die Tag für Tag unsagbares Leid zu sehen kriegen, und daß er ihnen Freude schenkt und ihnen etwas beibringt, was der Kultur zugute kommt.

    Solcherart in Feuer geraten, erklärte der Künstler Matthias haarklein, wie eine Zwergschule funktioniert, daß

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