Heile Welt
alle Jahrgänge in einen einzigen düsteren Raum gepfercht sind und dann umschichtig an die Reihe kommen, mal die Großen, mal die Kleinen, und dann auch mal alle gleichzeitig. Er nahm einen Zettel und zeichnete das, was man Matthias im Seminar als das Prinzip der«Äußeren Differenzierung»beigebracht hatte und was er täglich praktizierte, genauestens auf und schob ihm das Blatt hin, damit er sich das zu Hause noch mal angucken kann. Die kleine Schule habe auch ihre Vorzüge, sagte Säckel.
Er hätte als kleiner Dotz immer zugehört, wenn die Großen dran waren, Bauernkrieg, Robert Koch und so weiter. Das hätte ihn mehr interessiert als«Frühblüher im Mistbeet»oder dergleichen. Dann beschrieb er wieder und wieder die charakterlichen Mängel seines damaligen Lehrers und machte die speziellen Züchtigungsmethoden vor: das Zwirbeln der Haare zum Beispiel oder mit dem Knie in die Nierengegend des Schülers stoßen, und er schilderte in Art einer Anekdote, wie ihm mal bitter Unrecht geschehen sei, das könne er bis heute nicht verwinden.
«Vermutlich kommt man wahrscheinlich in einer Dorfschule ohne Handgreiflichkeiten gar nicht über die Runden…»
Er selbst ertappe sich dabei, daß er den Damen in seinem Kursus auch gern mal eine reinhauen möchte: so dämlich stellten die sich an.
Auch Ellinor wußte das eine oder andere zum Thema Dorfschule beizutragen, vier Jahre lang hatte sie in Klein-Wense die Schulbank gedrückt. Ihre Erinnerungen waren jedoch angenehmerer Art, an das Völkerballspielen erinnerte sie sich und an Frau Schmauchs Handarbeitsunterricht, bei dem zur Belohnung Haselnüsse verteilt worden waren. In der Gartenlaube hätten sie gesessen, mit Fliedersekt und Pflaumen.
Fliedersekt?, das war eine Kanne Wasser, in die man am Tag zuvor Dolden des violetten Flieders gehängt hatte. Weißen Flieder hineinzuhängen habe keinen Sinn, weil der nicht über das richtige Aroma verfügt.
Auch von der Nazizeit wurde geredet.
In der Schule sei damals von den Nazis noch nicht viel zu spüren gewesen, Schmauch als alter SPDler hätte nicht die richtige Antenne zu so was gehabt. Hitlerbild natürlich und in der Fibel: Heil Hitler, Heini! Aber sonst nichts Bemerkenswertes.
In Kreuzthal, auf der Oberschule, sei es dann gleich ziemlich unangenehm gewesen, vor allem wegen ihres Vaters, dem man die Ausstellung in Dortmund übelgenommen habe. Ein Rollkommando hatte seine Fresken in der Klosterkirche übertüncht! Vor einiger Zeit habe sie den Pfarrer, unter dem das veranstaltet worden war, getroffen, da habe der gesagt: Das war nicht recht, das war nicht recht… Es gebe Bestrebungen, die Fresken wieder hervorzuholen, und das zu einem Zeitpunkt, wo sie in Klein-Wense sich anschickten, Hand anzulegen an das große Altarbild!
Alfons Säckel war natürlich in der Hitlerjugend gewesen, wie er es ausdrückte, Fähnleinführer, was denn sonst, und mit dem Bannführer auf dem Motorrad in die Stadt gefahren und sich mit Mädchen getroffen.
Matthias legte sein Mitbringsel auf den Tisch, eine Kinderzeichnung, mit Sorgfalt ausgewählt. Auf dem Blatt war ein Fisch zu sehen, der einen kleineren Fisch verschluckt, der seinerseits einen Fisch verschluckt hat. Die Wasserlinie teilte das Blatt in zwei Hälften: unten der dicke Fisch mit dem Fisch mit dem Fisch inmitten von Schlingpflanzen, und oben ein Fischer, die Angel in der Hand: Schon scheint der Fisch danach schnappen zu wollen…
Ellinor sah das Bild kurz an, sagte«süß!»und wollte es zur Seite legen, aber Alfons Säckel geriet absolut in Begeisterung, das Blatt sei ja so harmonisch ausgefüllt, kein leerer Raum, der Fisch genau an die richtige Stelle gesetzt in genau der richtigen Größe, in absoluter Harmonie! Und der Fischer da oben, als Vertikale gegen Kahn und Fisch gesetzt, die Angel als Bindeglied zur«Unterwelt», wie man sagen könne…
Und die Tendenz! Die Aussage!
Er möchte den Jungen, der das Blatt gemalt hat, wohl gerne mal kennenlernen, sagte er, und immer begeisterter gebärdete er sich, er rannte sogar umher und schien zu meinen, daß Matthias den Wert des Blattes nicht recht erfaßt hätte. Er werde dieses Thema:«Fisch verschlingt Fisch»sofort, wenn er wieder in Karlsruhe ist, den Damen in seinem Volkshochschulkursus stellen, mal sehen, was dabei herauskommt, vielleicht auch mal Xaver Anfas zeigen, seinem Professor, der da unten ja ziemlich Furore mache, der habe eine Vorliebe für solche naiven Sachen, obwohl er selbst absolut abstrakt
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