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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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sah,«ging ihm das Herz auf», wie er es bei sich formulierte. Er sah den alten ausgedörrten Bürgermeister und die abgearbeitete Frau und dazwischen die kleine Engelsgestalt. Die muffige Stube mit den beiden alten Bauersleuten erschien ihm durch das Kind in einem andern Licht… Von diesem Augenblick an verstand er, was es bedeutete, Platt zu sprechen und ein Bauer in Norddeutschland zu sein. Das hatte was mit Jahrtausenden zu tun.

    Petersen hatte geraten, daß man die Kinder kommen lassen müsse, nicht um ihre Gunst werben, sich nicht aufdrängen, nicht an sich ranziehen und nach dem Alter fragen und dann womöglich sagen:«Und so groß bist du schon?»oder etwa:«Schenkst du mir den Maikäfer, mein Kind?»So was alles nicht tun, sondern still sitzen bleiben und darauf warten, daß Kinder von selbst den Antrieb haben, sich zu nähern.
    Die Bürgermeistersfrau zeigte auf den Lehrer und sagte so was wie:«Datt is de Liehrer, seih di vör…»Und Matthias tat nichts dergleichen, grabbelte dem Kind nicht unterm Kinn und rollte nicht die Augen, im Gegenteil, er strich sich die Haarsträhne aus der Stirn, die allerdings sofort wieder herunterfiel. – Auch auf die Gefahr hin, daß man ihn für einen Kinderfeind hielt, blieb er still und stumm. Er beobachtete das kleine Mädchen wohl, aber er sagte nichts. Und so kam es, daß das Mädchen sich irgendwann von der Oma löste und sich vor ihn hinstellte und ihn ungeniert betrachtete. Und schließlich mit dem Finger auf ihn zeigte und fragte:«Wie heit de Mann?»Worüber die Großeltern sehr lachen mußten.
    Der liebe Gott, so ungefähr dachte Matthias, hat die Kinder den Erwachsenen beigesellt, damit sie was zu lachen haben. Und damit würde er es jetzt zu tun kriegen, mit dem Lachen, den Hauch verspürte er jetzt.

    Die beiden Bauersleute, die enge Stube – er selbst vor diesem staatschen Geschlecht eine Art Luftikus. Was war er denn, wo kam er her? Er dachte: Ich muß alles so lassen, wie es ist. Wenn ich das schaffe, werde ich ein guter Lehrer sein. Alles so lassen, wie es ist, und etwas dreingeben.

    Es machte ihm nichts aus, daß nun eine letzte zangenartige Ausforschung begann.
    Sie hätten nach dem Krieg auch Flüchtlinge bei sich wohnen gehabt, sagte die Bürgermeisterin, nette Leutchen, die lebten jetzt in Wuppertal. Bis voriges Jahr hätten sie jedes Jahr zu Weihnachten geschrieben. Kein Vergleich mit dem Gesochs aus dem Lager Westereistedt, den DPs. In den ersten Nachkriegsmonaten sei dieses Volk ja regelrecht zu Plünderzügen ausgeschwärmt. In Eistedt einer ganzen Familie die Kehle durchgeschnitten. Und auf dem Bahnhof in Kreuzthal den Bahnwärter abgemurkst…
    Matthias erfuhr, daß in den letzten Kriegstagen noch acht Höfe abgebrannt seien in der Gegend, und daß die SS am schlimmsten gewesen sei. Die Engländer dagegen ja direkt harmlos.

    Auch die Bauersfrau wunderte sich, daß er noch unverheiratet war.
    Eine Frau hätte er sich besser gleich mitbringen sollen. Hier auf dem Lande sei das gar nicht so einfach,’ne Frau zu kriegen. In Gedanken mochte sie die Reihe durchmustern, die dafür in Frage käme. Von Bauer Fitschen sprach sie und dessen Tochter Anita, und von Freede, Carla Freede…, bei der sich allerdings jetzt grade was anzubahnen scheine.

    Die kleine Helga, mit ihrem Maikäfer auf dem Finger, stand die ganze Zeit über vor Matthias und sah ihn unverwandt an. Und da passierte es, daß ihr ein Fürzchen entfuhr. Das viele Brot und der Kohl… Die Alten lachten, und es schien so, als ob dieses Naturereignis Sympathie zwischen den Dorfleuten und dem Fremdling hergestellt hätte, die vorher wohl noch nicht vorhanden gewesen war. Das führte dazu, daß Gerke den Kleiderschrank öffnete und seine alte Marinejacke hervorholte. Er zog sie an, und sie paßte sogar, dicker war er nicht geworden. Aus dem Bauern wurde ein Matrose, ganz ohne Maskerade. Gerke faßte in die Uniformtasche und zog das Minensucherehrenzeichen heraus und hielt es sich an die Brust.
    Im Schapp lag ein Brief des Kapitäns, den hielt er Matthias unter die Nase, in dem stand, daß der Krieg nun zu Ende sei, aber immer gute Kameradschaft halten.
    Gerke faßte noch einmal in die Tasche, und er legte allerhand Fingerringe aus Aluminium auf den Tisch, in Zeitungspapier gewickelt, die hatte er in der Gefangenschaft gebastelt, und ein Zigarettenetui aus Blech mit einer nackten Frau drauf ziseliert, mit so was hätten sie sich beim Engländer die Zeit vertrieben…

    Inzwischen deckte

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