Heile Welt
gelb. Forsythien und Bauernblumen von der Art, die es in Städten nicht mehr zu sehen gab. Sie hatten sich von einer Generation auf die andere vererbt. Als Ableger von Dorf zu Dorf gereicht… Wenn die hier jetzt vertilgt würden, verschwänden sie für immer vom Erdball.
Leider kam der Spitz gesprungen und umbellte die beiden jungen Leute, die sich anschickten, ins Gespräch zu kommen, und ausgerechnet jetzt hatte der Hahn das Bedürfnis, eine seiner schmucken Hennen zu besteigen. Eine vernünftige Unterhaltung war unter diesen Umständen nicht zu führen. Nicht einmal ein Wettergespräch.
Eigentlich war Carla zum Zöpfetragen schon zu alt, das sah Matthias jetzt. Irgendwann hatte sie wohl den rechten Moment zum Abschneiden verpaßt, und nun traute sie sich nicht mehr. Nun lief sie noch immer mit den Zöpfen herum, und das sah aus wie eine Zeitverschiebung. Und wenn sie das Haar jetzt kürzen würde, dann würde das auch wie eine Zeitverschiebung aussehen. Dauerwelle? – Dazu war sie eben doch noch zu jung. Nach Zwiebeln roch sie, angenehm.
Nachdem mehrere Trecker im Vorüberfahren das Tempo gedrosselt hatten, um zu sehen, ob es wirklich der neue Schulmeister ist, der sich da mit der flotten Carla Freede unterhält, und die Maurer vom Landhandel-Neubau aufs Gerüst kletterten, um es besser auszumachen:«… wat ick noch seggen wull…», und auch Gardinen weggezogen wurden nebenan bei Fitschens, und die Jungen auf dem Schulhof aufhörten, Fußball zu spielen, gingen sie den von orangeroten Montbretien gesäumten Weg ins Haus hinein. Treulich geführt, von Hühnern und dem Spitz. Links neben dem Eingang eine Tafel aus Gußeisen Z
ZUM GEDENKEN AN UNSERN SOHN
JOACHIM FREEDE
1923-1941
Matthias freute sich darauf, mit der jungen Frau«Tass’ Kaff’»zu trinken.«Tass’ Kaff’»? So was bliebe im Rahmen.
Der Spitz lief mit hinein und holte aus seiner Ecke einen alten Pantoffel, das war als Geschenk gedacht für den jungen Lehrer. Carla wischte einen Küchenschemel sauber, und dann saß Matthias auf dem Schemel, die Beine unten rumgeschlungen, und kriegte aus einer Kanne ohne Deckel eine Tasse Kaffee eingeschenkt, aufgebrühtes Zeugs, ziemlich greulich, in einer Tasse ohne Untertasse, aber der Henkel war noch dran.
Abgesehen von der Geschirrspüleinrichtung aus nichtrostendem Stahl, war es eine Küche aus Urväters Zeiten, ein Feuerherd mit Messinggeländer, blank geputzt – und an der Wand Tellerborde mit bunten Tellern, ganz urig; daß eines der Hühner in der Tür stand, paßte dazu. Auf dem untersten Bord standen sogar Zinnteller. Die junge Frau räumte das Mittagsgeschirr fort. Es war eine reguläre Nirosta-Abwäsche, an die sie sich jetzt stellte, mit Abtropfbrett, und aus dem Kran kam heißes Wasser.
Matthias beobachtete die junge Frau – ihr Hosenboden hing ein wenig, ein Höschen zeichnete sich nicht darunter ab, wahrscheinlich trug sie einen wollenen Apparat -, und sie hatte wohl Spaß daran, von ihm beobachtet zu werden. Beim Abwaschen konnte sie ihn besser ausfragen, und er fing auch sogleich bereitwillig an zu erzählen, wie schlecht es ihm ergangen war in seinem Leben, aber manchmal hätte er auch Glück gehabt. Er schwankte bei seiner Darbietung zwischen«armer Kerl»und«doller Kerl», stellte ihr also frei, ihn zu bedauern oder zu bewundern. Wenn er auf einem Stuhl gesessen hätte, statt auf einem Schemel, dann hätte er das rittlings getan, die Arme auf der Lehne.
All das, was er sonst nicht mehr erzählte, weil es ihm zum Halse heraushing, gab er jetzt kataraktisch von sich, in geübter Rhetorik, mit Kunstpausen ganz an der richtigen Stelle, und das imponierte der Frau, ganz wie er vermutet hatte.
Jetzt habe er jedenfalls Gück, sagte er zum Schluß, in einem Dorf wie Klein-Wense gelandet zu sein, das komme ihm direkt paradiesisch vor, Schweine, Kühe, Apfelbäume… So was hätte er sich schon immer gewünscht.
Carla fand Klein-Wense auch sehr schön, schöner jedenfalls als Sassenholz. Aber Stadt bleibe Stadt, in der Stadt könnt’ man mal ins Kino gehn oder in’ne Wirtschaft… Ihre Kusine sei in Bremen in Stellung, die habe ein ganz anderes Leben dort. Hier käm’ ab und zu das Kino-Auto, eine Einrichtung noch aus der Nazizeit, und dann würden im Schützensaal Filme gezeigt. Das wär’ aber auch so ziemlich das einzigste.
In eine Pause hinein wußte sie zu erzählen, daß sich hier ganz in der Nähe, in Westereistedt, ein Lager befunden habe, mit Ukrainern. Nach dem Krieg
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