Heile Welt
recken, sehr ähnlich von Gestalt wie die Engel auf dem Altarbild zu Sassenholz. Warum besitze ich so etwas nicht?, fragte sich Matthias. Hier gehörte das doch gar nicht hin.
Während Matthias ziemlich unverwandt das Bild betrachtete, kam es zu einer systematischen Ausforschung. Das war ja auch der Zweck des Antrittsbesuches, man wollte wissen, was man voneinander zu halten hat. Er wurde gefragt, ob sein Name sich mit i in der Mitte schreibe? Jän i cke? oder Jänecke? oder wie?
Nach den Wetter-Präliminarien kam es unverzüglich zu Punkt eins: Was war der Vater? – So so, gefallen… Das war schon mal positiv. Daß Matthias nicht rauchte, wurde allerdings eher negativ vermerkt.
Sein älterer Bruder wär’ ebenfalls im Felde geblieben, sagte der Bürgermeister, deshalb sei ihm der Hof zugefallen.«Schicksal», könne man da nur sagen. Er nahm das Soldatenfoto von der Wand, pustete Staub von dem silbernen Rahmen und hängte es wieder an den Nagel. Er selbst sei im Krieg auf einem Minensucher gefahren. Und dann nach fünfundvierzig den Hof übernommen, e-te-ze.
Die Gegend, aus der Matthias stammte, kannte er, und die Erwähnung seiner Heimatstadt löste Vertrautheit aus: Norddeutschland, wenn auch Ostzone. Wismar, Rostock, Stralsund… Die Kneipe am Semlower Tor, links vom Hafen aus gesehen, da hatte es immer so schöne Bratkartoffeln gegeben…
Die dunkle Seite in Matthias’ Vergangenheit wurde nicht weiter berührt, das interessierte hier nicht. Irgendwie wurde das unter Kriegsgefangenschaft abgebucht. Wer hatte nicht schon alles gesessen! Beim Russen im Bergwerk… Oder beim Ami auf den Rheinwiesen. Außerdem gab es im Ort genug Bauern, die wegen Schwarzschlachtens hatten sitzen müssen. Einer hatte sein eigenes Haus«warm abgebrochen», nicht ganz in Ordnung, aber irgendwie lustig. Die Versicherung hatte schon zahlen wollen, aber dann war’s doch noch herausgekommen, die eigne Schwiegertochter hatte sich verplappert. Anderthalb Jahre in Kreuzthal unter Verschluß.
Oder das Schnapsbrennen… das war ja mehr ein Kavaliersdelikt gewesen. Der Bürgermeister überlegte, ob er ins Schapp greifen und eine Flasche Korn hervorholen sollte und dem jungen Mann anbieten daraus. Aber wenn der nicht rauchte, dann trank er gewiß auch nicht.
Ein Mord hatte sich in Klein-Wense auch schon ereignet, Genaueres war nie herausgekommen, schon lange her, nach dem Weltkrieg war das gewesen, ein Mädchen aus dem Rheinland, spurlos verschwunden… Mit’m dicken Bauch zur Hebamme geflüchtet, der Bauch voll blauer Flecke, weil der Bauer mit einer Forke auf sie losgegangen war. Ein junges Ding und aus der Stadt, wie das denn so ist, springt vor dem Bauern hin und her… war dann angeblich abgereist und nie zu Hause angekommen.
Kameradendiebstahl – das war schon was anderes. Der Kiesbauer, dem die Sandkuhle gehörte, hatte in der Nachkriegszeit dem Nachbarn Vieh von der Weide gestohlen, das war als Kameradendiebstahl aufgefaßt worden, dieser Mann war für immer geächtet, samt Kind und Kindeskind, bis ins tausendste Glied, der hätte man lieber alles verkaufen sollen und nach Amerika auswandern. Dem jungen Lehrer wurde genauestens beschrieben, wo der Hof dieses Mannes lag.
Um sich mit Matthias, dem zukünftigen Lehrer, zu verständigen, verwendete Herr Gerke das hier übliche Bürokratenplatt, das Wort«betiehungswise»fiel, von«Nahdeelen»wurde geredet und«in Betuch von düsse Pünkte». Matthias paßte sich auf seine Weise an, er rollte das R und kramte aus seinem Sprachfundus plattdeutsche Wörter hervor, die noch aus seiner Kindheit stammten.«Ick heww…», sagte er zum Beispiel, statt«ich habe»und «dunn»statt«dann». Das machte aber keinen Eindruck. Platt brauchte ein Lehrer nicht unbedingt sprechen zu können.
Platt durfte er ja gar nicht sprechen, zumindest nicht in der Schule, da gab es einen Erlaß, hier und da ein plattdeutsches Gedicht vielleicht, aber nichts darüber hinaus.
Nachdem die Ausforschung beendet war, erfuhr Matthias, daß im Dorf 256 Seelen lebten, Anbauer, Neubauer, Vollhöfner, 2/3 Höfner, 5/6 Höfner, Häuslinge e-te-ze… 450 Schweine, 57 Milchkühe und 1319 Hühner, und daß die Lehrerwohnung 35 Mark pro Monat kostet. Die sechs Morgen Land, die zu der Schulstelle gehören, seien von der Gemeinde letztes Jahr anderweitig verpachtet worden, dafür habe es einen«Afschlach»auf die Miete gegeben. Vorher habe sie 55 Mark betragen, jetzt nur noch«fiefundörtig».
Der Schuletat läge
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