Heile Welt
durch die Gartenpforte davongegangen war, die Volkssturmbinde um den Arm. Die Mutter war gerade beim Friseur gewesen, und der Vater hatte nur eben den Kopf geschüttelt und kurz gewinkt. Er hatte wohl gedacht, er kann morgen früh noch einmal wiederkommen und die Zahnbürste holen. Aber er war nicht wiedergekommen, sondern irgendwo von einem Panzer überfahren und plattgewalzt.
In diesem Augenblick hielt auf der Straße ein großer Lastzug. Wo’s hier nach Kreuzthal geht, schrie der Fahrer aus dem Führerhaus heraus, und Matthias schrie aus dem Fenster zurück: Rechter Hand! Rechter Hand!
Zum Schluß noch mal wieder lustig werden! Die Kinder, die zum Teil gar keine Kinder mehr waren, mit einem Scherz entlassen – er schrieb Zahlenkolonnen auf die Wandtafel, vierstellige, und fragte, wer mit ihm um die Wette rechnen will.
Das war ein Fehler. Elfriede meldete sich sofort, und er hatte mit seiner Kolonne gerade angefangen, dauernd Zehnerüberschreitungen und kaum eine Null, da war sie schon fertig! Na, das gab einen Krach! Matthias hatte Mühe, die Kurve zu kriegen. Dieser Scherz war gelungen, aber auf seine Kosten.
Glücklicherweise klopfte in diesem Augenblick der Briefträger ans Fenster. Matthias öffnete und erfuhr, daß keine Post für ihn gekommen sei.
Als die Großen dann nach Hause gingen, rief Matthias den größten von ihnen herbei, der wurde Hinni genannt, ein gutmütiger Junge, der auf dem Hof seines Vaters bereits seinen Mann stand, und ging mit ihm auf den Holzplatz. Da lagen die Trümmer des Pultes.«Trag mal den Stuhl in meine Wohnung», sagte er zu ihm. Das geschah, und er rieb den schwarz überpinselten Stuhl mit feinem Scheuersand ab, und siehe da, es traten Farben zutage: Rote Äpfel an einem grünen Lebensbaum. Er stellte ihn in seine Wohnstube, die Sonne schien ins Zimmer, und er setzte sich und sah aus dem Fenster.
Der Stuhl paßte zu dem geschwungenen Eichentisch aus der Küche. Nun konnte Matthias sich in seinen Lehnstuhl setzen, die Füße unter den Tisch strecken und die Hände über dem Bauch falten. Nun würde sich alles Weitere finden.
10
D a es sowieso regnete, machte sich Matthias auf den Weg, dem Bürgermeister den fälligen Besuch abzustatten. Den Pastor hatte er hinter sich, nun war der Dorfschulze an der Reihe. Hoffentlich ist er nicht da!, dachte Matthias, dann könnte ich sagen: Aber was denn, ich war doch da, aber die Tür war ja verschlossen!
«An mir hat es nicht gelegen, ich habe alles versucht.»
Auf dem Hof stand ein X-beiniger Bernhardiner. Matthias ging an dem Tier vorüber, ohne es anzusehen, das hatte der alte Hinrichsen im Landschulpraktikum geraten. Niemals Hunden ins Auge gucken! Sonst beißen sie.
Eine übergroße Linde rechts von dem grünen Dielentor.
Das Tor stand offen, wie alle Türen in Klein-Wense offenstanden, mit Ausnahme zur mittäglichen Schlafenszeit, zu der sich hin und wieder Gesindel in die Häuser schlich. Aber Gesindel gab es eigentlich keines in dieser Gegend. Zwielichtige Typen wurden einem meistens schon vom Nachbardorf gemeldet, sogenannte«Globetrotter». Dann allerdings wurde alles dichtgemacht, und der Ortspolizist machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg.
Matthias tastete sich die dunkle Diele entlang, links und rechts angekettete Kühe, die neugierig den Kopf hoben. Der Hund sah hinter ihm her.
Der Bürgermeister hieß Gerke, ein gekrümmter Mann mit ausgemergeltem Vogelkopf. Er kam gerade aus dem Schweinestall, wischte sich die Hände ab, wie ein Arzt nach einer Untersuchung. Matthias nannte seinen Namen: Jänicke, ohne h, aber mit ck, und er wurde einigermaßen freundlich begrüßt, wurde in die Stube geschoben und mußte auf dem Sofa Platz nehmen, unter einem mit Trauerflor versehenen Soldatenfoto.
Durch eine Schiebetür war die«kalte Pracht»zu bewundern, das eigentliche Wohnzimmer, das nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt wurde: Kindtaufen oder abendlichem Reihum-«Besäuk», riesige Sessel, mit hellgrünem Samt bezogen. Die«Stube»hingegen irgendwie schief, wie eine Kombüse bei Seegang. Schief und dick eingepackt und von der Außenwelt abgesperrt durch dunkelgrüne Vorhänge und Gardinen. Auf dem Büfett stand eine Schale aus Preßkristall, und der Büfettschrank war verziert mit einem rosa Schaumgummikissen, an dem eine Schaumgummiquaste herabhing.
In der dunklen Ecke neben dem Fenster hing ein kleines Gemälde von edler Hand, offenbar ein Kallroy: zwei nackte Mädchen, die sich in einer Heidelandschaft
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