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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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gestohlen hatte und dafür wie ein Ausgestoßener lebte, hatte sich auf seinem Hof selbst eingesperrt mit Stacheldraht an Betonpfeilern.
    - Elektrozäune, tick-tick-tick, das war wieder was anderes. Daß man das«Einfrieden»nennt, wenn man sich mit einem Zaun umgibt.
    «Der Zaun als gesellschaftliches Phänomen», so könnte man die Stunde nennen, oder volkstümlicher:«Der Nachbar baut einen Zaun.»Oder:«Warum wir keine Flaschen über den Zaun werfen dürfen… »

    Matthias saß in der Laube, wen’s irgend ging, und las in den pädagogischen Büchern, die Schmauch ihm hinterlassen hatte: daß Belobigungen lediglich auf Pflichterfüllung folgen dürfen, keinen«Orden des Fleißes»verleihen, keine Ehrenkarten, goldene und silberne Ehrenpunkte ausgeben, wie die Philantropen es getan hatten, um Gottes willen!
    Eigentlich hätte er Elfriede keinen Rechenausweis geben und Hinni nicht als Weltmeister im Seilspringen bezeichnen dürfen.
    Die drei Schläge aufs Gesäß? Natürlich auch verkehrt. Hier war eine Rücknahme nicht möglich. Seine diversen Lebensfehlstarts nahm ihm ja auch keiner weg. Die Schläge hatte er einstekken müssen – Schicksal, unter dieser Rubrik war das zu verbuchen.
    Lob und Tadel austeilen, Schicksal spielen. Ein bißchen lieber Gott.

    An einem schönen Nachmittag entdeckte Matthias im XIV. Band des Bücherschatzes aus dem Jahre 1928, 4. Teil, I. Abteilung, die Behandlung des Gedichts«Er ist’s», ganz so, wie sie in Poggenreich vom Kollegen Frohriep dargeboten worden war. Das amüsierte ihn denn nun doch. Hoffentlich käme ihm niemand drauf, das war ja quasi ein Betrug?

    Außer der Rundfunkzeitung und amtlicher Post kriegte er ab und zu auch mal einen Brief. Daß sie immer noch seine Mutter ist, diese Mitteilung kam von Zeit zu Zeit aus Hahnewischen, und ein Kamerad aus Wuppertal schickte Ansichtskarten aus seinem Urlaub. Eines Tages schrieb der Kamerad aus finsteren Tagen, daß er jetzt bei der Sparkasse beschäftigt sei und schon seit vier Jahren verheiratet und zwei Kinder hat und mit seinem Wohnwagen und Vorzelt jeden Sommer an die Nordsee fährt. Ober nicht mal vorbeikommen darf, wenn er an die Nordsee fährt? Von alten Zeiten reden?

    Wenn Matthias in der Laube saß, setzte er sich den Strohhut auf, den er bei Klapproth gekauft hatte. Eigentlich hätte er gern ein mit Perlen besticktes Käppchen getragen, aber das wäre wohl doch zu weit gegangen. Da hätte dann nur noch die lange Pfeife gefehlt! Außerdem fürchtete er, daß ihm die Haare ausgehen, wenn er so ein Ding trägt. Bequeme Schuhe hatte er an und eine Allzweckjoppe in Art einer Windjacke, mit je drei Taschen links und rechts. Morgens früh in der Schule trug er natürlich Schlips und Kragen, das wäre anders nicht gegangen. Sonst hätten die Bauern gesagt: Das ist kein richtiger Lehrer. Der Lehrer, den sie sich leisteten, sollte möglichst fein angezogen sein, also städtisch, Schlips und Kragen, und einmal pro Woche durchs Dorf gehen, ob die Höfe gefegt sind.
    Und natürlich verheiratet, aber damit konnte Matthias nicht dienen.

    Er saß in der Laube, und das sah so aus, als ob er arbeitete. Meistens saß er bloß so da und beobachtete die scheuen Hühner, die von nebenan geflogen kamen. Eines war weniger scheu, das kam schon mal in seine Nähe, und seit er es mit Kuchen gefüttert hatte, kam es noch näher und kuschelte sich schließlich neben ihn auf den Boden. Auf den Arm nehmen ließ es sich nicht und auch nicht streicheln. Einmal gelang es Matthias, mit dem Daumen seinen glatten Rücken zu berühren, das war schon sehr viel. Kaum anzunehmen, daß das Huhn das gemerkt hatte. Es handelte sich bei den Hühnern um«Italiener», mit braunem Gefieder: fein gemustert, jede Feder der andern ähnlich und doch wieder jede ganz anders. Immer dachte Matthias, man müßte so eine Feder mal abzeichnen, aber wieso denn eigentlich? Er hatte sie doch täglich vor Augen. Wenn diese Tiere eines Tages ausstürben, dann allerdings, dann müßte man sie schnell noch abzeichnen oder wenigstens fotografieren.
    Auch die Katze des Nachbarn leistete ihm manchmal Gesellschaft, legte sich neben ihn auf die Bank und schnurrte. Manchmal hatte sie vor den Hühnern Angst, zuweilen zuckten aber auch die Hühner zusammen, wenn sie die Katze sahen.
    Vor dem großen Hahn hatten alle Angst, einschließlich Matthias. Der flatterte auf den Zaunpfahl und krähte seinen Akkord in die Gegend. Ein unheimlicher Geselle. Einmal rutschte er beim

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