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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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würd’ ich lassen. Und im übrigen:«Die Zöglinge die Folgen ihres Tuns spüren lassen», wie gesagt worden war, kurz und trocken. War das nicht Rousseau? Wenn die Kleinen ihm also zu nahe auf den Pelz rücken: dann in die Hände klatschen, dann ist die Pause eben zu Ende. Das Folgerichtige dieser Aktion kriegten die mit.
    Luers und seine Freundin Gitte hielten noch immer zusammen, weiter als drei Schritt entfernten sie sich nie voneinander: Man kann ja nicht wissen! Luers hatte an der linken Hand eine Warze, und Matthias dachte immer: Die müßte man ihm mal ausbrennen, und er sah eine Drahtschlinge sich um die Warze legen, Strom wird eingeschaltet, und das Ding verdorrt.

    Manchmal kam Besuch, Herr Schröder, ein Vertreter, der wußte, wann große Pause ist. Er war höherer HJ-Führer gewesen und hatte deshalb Vertreter werden müssen. Er zitterte leicht mit dem Kopf, und das kam ihm sehr zugute bei seinen Geschäften. Das war mitleiderregend. Kreide wurde geordert und manchmal auch etwas Größeres, wenn der Etat noch unangetastet war: eine neue Landkarte etwa:«Deutschland physikalisch»(obwohl«politisch»interessanter war: Ostpreußen, daß das unter polnischer Verwaltung steht).
    Oder eine Diareihe zum Verkehrsunterricht, mit Pauschbogen zum Ausfüllen. Und Rechenspiele aus Plastik für die Kleinen. Jedes Jahr eine Landkarte anschaffen, dann sind wir in zehn Jahren komplett.
    Schmauch hatte ein anatomisches Modell vom menschlichen Körper gekauft. Aus dem geschlechtslosen Pappmachekörper konnte man sämtliche Organe herausnehmen, aber man kriegte sie nicht wieder rein, obwohl sie ordnungsgemäß numeriert waren. Der Dickdarm lag auf dem Tisch, die Galle daneben – da mußte dann Tesafilm helfen und nie wieder benutzen das Dings.
    «Sind Sie Rechenonkel oder Deutschmann?»fragte der Vertreter. Er habe da eine Rechtschreibkartei für die Stillarbeit, ob er ihm die mal zeigen darf? Oder ein Handbuch über sämtliche Olympiaden? Er selbst sei gut im Kugelstoßen gewesen, das HJL in Silber. Gepäckmarsch nach Nürnberg, Hitler gesehen.
    Matthias kaufte einen Zeigestock aus Glasfieber, mit Öse zum Aufhängen am Kartenständer. Das ließe sich vom Etat her verantworten. Und einen neuen Schwamm für die Tafel, der war auch mal wieder fällig.
    Eine Stoppuhr wünschte er sich, mit der hätte man messen können, wer am längsten die Luft anhalten kann, und es dann in den Ausweis eintragen: der beste Luftanhalter von Klein-Wense. Aber wo eine Stoppuhr ist, da ist es bis zu Bandmaß und Trillerpfeife nicht mehr weit, dachte er, und von diesen Dingen war er kein Freund. Matthias hatte nie ein Sportabzeichen errungen, knapp daß er schwimmen konnte, grade man eben die Pimpfenprobe bestanden.
    Als Pausenglocke benutzte er die Triangel, wenn’s regnete, brauchte er nicht damit zu pingeln. Bei gutem Wetter auch mal fünf Minuten überziehen. – Elfriede guckte dann auf die Uhr. Schrieb die sich das auf, daß er öfter mal alle fünfe gerade sein läßt?

    Ab und zu kamen Bundeswehrkolonnen vorüber oder die Holländer. Die Bundeswehr fuhr etwas langsamer, als die flotten Holländer es taten. Die Kinder liefen dann an den Zaun und zählten die Fahrzeuge und winkten. Und die Soldaten, die den Lehrer da auf seinem Stuhl sitzen sahen, dachten, na, der hat vielleicht ein Leben…

    Gegen zehn Uhr kam der Briefträger. Der brachte meist nur die Zeitung. Wenn er Matthias da so gemütlich in der Sonne sitzen sah, war der auch der Meinung, daß Matthias«ein Leben»habe, sagte dann:«So gut möchte ich es auch mal haben.»
    Matthias antwortete dann:«Ja, Sie hätten man auch Lehrer werden sollen!»Diese Antwort hatte er einem Gespräch der Junglehrer entnommen, daß man so sprechen soll, wenn einem einer dumm kommt, und das funktionierte. Das deckelte den Briefträger, der im übrigen ein freundlicher Kriegsveteran war. Wenn der Unterricht schon wieder begonnen hatte, fuhr er schon mal mit seinem Rad vors Fenster und reichte das bißchen Post in die Klasse hinein. Von Lilli kam leider nichts, aber vielleicht war das ganz gut. Ihr später mal erzählen, daß man sie besuchen wollte, extra auf die Bahn gesetzt zu Pfingsten, man hätte ja auch was anderes unternehmen können, nach Hindelang fahren oder an den Rhein…
    Eine Ansichtspostkarte aus Hahnewischen wurde ihm ausgehändigt.«Heim der Inneren Mission»stand unter dem Bild, und mit Kugelschreiber ein Pfeil auf ein Fenster:«Hier wohne ich.»
    «Ich bin schließlich noch

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