Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
er ihn zu Hause aufstellte, sah er, daß der Schrank wohl seine zweihundert Jahre auf dem Nacken hatte. Schön geschwungen und aus edlem Holz. Fünfundsiebzig Mark? – In Gedanken setzte er eine Null dahinter und eine Eins davor, und er sah ihn schon in einem Schaufenster stehen, von einer Lampe angestrahlt.

    Die Kinder lernten was bei ihm, und er selbst lernte auch allerhand, daß man nicht über eine Wiese laufen darf, lernte er, und daß man eine Eidechse nicht in einen Glashafen setzt, in dem sich feuchte Erde befindet. Wenn man so was tut, dann gehen diese Tiere eben ein. Aber wann und wo würde er eine solche Erfahrung je anwenden können?, fragte er sich.

    In der Klasse war er manchmal Petersen, wenn ihm das freischaffende Lernen in den Sinn kam, manchmal auch Lehrer Hinrichsen im Weserbergland, bei dem er das Landschulpraktikum gemacht hatte: die älteren Mädchen in die Laube schicken mit den Kleinen und das Einmaleins üben.
    Hinrichsen war jeden Abend ins Gasthaus gegangen. Das mußte ja nicht sein.

18

    G ern saß Matthias in der Laube, von blühenden Sträuchern und Stauden umgeben, mit Blick auf die Schule:«Bin ich denn ein Hausbesitzer?»dachte er. Ein bißchen wie der Igel im Geschichtenbuch kam er sich vor, wenn auch ohne Pfeife und Holzschuh. Durch das Fenster konnte er den alten Schrank in seiner Stube stehen sehen mit der geschwungenen Bekrönung. Es würden Borde einzuziehen sein für Kleinteile. Das gußeiserne Waffeleisen mit eingegossenem Rezept hing einstweilen in der Küche neben dem Herd, hier stand auch der Dreifuß vom Bürgermeister, für die Hühner nahm der jetzt einen anderen Topf.
    Auf dem Tisch lag der«Nachsommer»von Adalbert Stifter, in dem er nicht weiterkam, und sein Lebensnotizbuch, in das er seine Erlebnisse eintragen wollte, was er aber immer wieder vergaß. Manchmal zeichnete er etwas, das efeuberankte Schulhaus oder den Giebel des Nachbarhauses, aus dem Fenster der Opa guckend, was der Lehrer da macht, in der Laube…
    Längere Zeit hatte er zu tun mit den Poesiealben der Mädchen, die ihm zunächst einzeln, dann im Pack hingeschoben wurden. Mit Bleistift war vermerkt, wer sich wo eintragen sollte: Opa, Oma, Papa, Mama… Dann kam der Pastor an die Reihe, und zuletzt der Lehrer.
    Dem kleinen Veilchen gleich,
das im Verborgenen blüht,
sei immer fromm und gut,
auch wenn Dich niemand sieht.
    Matthias schrieb immer dasselbe ins Buch:
    Mir fällt kein Vers ein und kein Spruch,
ich wünsch’ Dir Glück, das ist genug.
    Manchmal auch:
    Des Lebens ungemischte Freude
ward’ keinem Irdischen zuteil.
    Matthias las in der Laube seine Zeitung, hier putzte er seine Posaune. Hier draußen bereitete er sich auch vor, das heißt, er hatte ein Papier vor sich liegen und guckte sich fest. Zwischendurch betrachtete er das Barometer, das hier hing, ob es fällt oder steigt. Sich vorbereiten, das war nicht seine Sache, er nahm die Dinge, wie sie kamen.

    Die Luftpumpe, die Alpen als Verkehrshindernis, Konrad von Masowien… Mochten es hundert Themen sein, die der Plan vorschrieb, oder zweihundert -«Herr Kollege, haben Sie schon: behandelt?»-, nie würde man diesen Lernkanon erfüllen können.
    Meeresstille und glückliche Fahrt. Der Brockhaus des Vaters hatte siebzehn Bände gehabt.
    Die Providence-Inseln, auch Udschilong, nur I qkm große, fast unbewohnbare Inselgruppe, zu den Marshallinseln gehörig, unter 161° östl. Länge und 9°30’ nördl. Breite.
    Warum über den«Kreislauf des Wassers»sprechen und nicht über die Providence-Inseln?

    Er guckte sich fest, aber dann gab er sich einen Ruck und schrieb auf, was ihm gerade in den Sinn kam, das, was Spaß bringen könnte, ihm und den Kindern, und was es gleichzeitig wert war, weitergegeben zu werden, die sogenannten Kulturtechniken und Traditionen und:«Der Blick in die Zukunft», was für jede Stunde laut Erlaß gefordert war.
    «Gesittung»natürlich auch, das nicht vergessen.«Heb das Papier da mal auf! »Und dem Lehrer die Tür aufhalten.
    Das verstand sich ja von selbst.
    Aus den ihn bewegenden Themen destillierte er Spezialstunden, an denen er immer wieder herumfeilte. Wer konnte denn wissen, wozu man die mal gebrauchen könnte? Vorführstunden, Examensstunden, oder wenn eine Visitation angesagt war?«Zäune», das war so ein Thema, das ihn interessierte. Er fotografierte sie, und er zeichnete sie, er hatte schon eine ganze Mappe voll. Der Kiesbauer, der anderen das Vieh von der Weide

Weitere Kostenlose Bücher