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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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könnten sie sich die Zone doch an den Hut stecken!

    Hier wachte die Ehefrau auf. Sie stammte aus Thüringen, und auch sie erzählte mit«hinne»und«haußen», halb thüringisch, halb wuppertalsch, von«drüben», daß sie damals ahnungslos zur Schule gegangen sei, das mache ihr noch immer schwer zu schaffen,«nacherts»habe sie Stachelbeeren gepflückt in dem warmen Sommer und sei an die See gefahren zu den Großeltern, und das arme Muschelchen hinter Gittern!
    Weil sie auch jetzt noch ab und zu daran denken müsse, sehe sie ihm vieles nach!
    «Waren Sie auch mal im Karzer?»
    Das bunte Licht, das in die Kirche fällt
ist bunt für den nur, der’s für Buntes hält.
    Das wurde immer und immer wieder rezitiert, wie’s weitergeht war dem Kameraden entfallen, leider, und Matthias konnte sich auch nicht mehr daran erinnern.

    Dann mußte die Entscheidung gefällt werden, was nun werden soll. Die Zeit war vorgerückt, halb eins? Matthias mußte sich jetzt irgendwie freikaufen – das war die einzige Möglichkeit, mit der Sache weiterzukommen. Er machte den Vorschlag, ins Gasthaus zu gehen und dort zu essen,«ich lad euch ein»… essen mußte er ja sowieso.

    Matthias langte sich das Portemonnaie und setzte den Strohhut auf, und dann ging’s im Konvoi zu Mudding Schulz. Ob er so ins Dorf gehen will, wurde Matthias gefragt, mit diesem Hut? Eigentlich ganz originell, schnell ein Foto machen davon, aber doch etwas sonderbar.«Was sagen die Bauern dazu?»
    Beim Gang durchs Dorf wurden Urteile abgegeben, die Platanenallee ja wunderbar, die Commerzbank ulkig. Warum die Straßen nicht gepflastert sind, und’ne ordentliche Tankstelle müßte auch mal her…
    Im Gasthaus gab es frischen Spargel mit wunderbaren Kartoffeln, ausgelassener Butter und Schinken von der seltensten Sorte. Dazu ein Bier nach dem andern und den einen oder anderen Schnaps, das gehört nun mal dazu. Die Wirtin erfuhr es, daß Matthias mit Kamerad Bentwitsch jahrelang zusammengelebt hätte, zwangsweise, und sie wurde gefragt, ob man ihnen das ansieht? Daß sie jahrelang derart hinter Gittern gesessen hätten?
    Sie trug noch immer Trauer, das fiel Matthias jetzt auf, über den Tod ihres Mannes hatte sie noch nie ein Wort verloren.

    Solche Spargel, wie sie hier aufgetischt wurden, hatten die Bentwitschs noch nie gegessen, das provozierte Erinnerungen an Kindheit und Vorkrieg, und das Gespräch landete dann prompt wieder bei«damals», was andere Erinnerungen nach sich zog, und Matthias klopfte das Blut in den Schläfen, der wollte nicht anderer Leut’s Erinnerungen hören, er hatte seine eigenen, und die konnte er jetzt nicht brauchen.

    Zum Nachtisch gab es eingemachte Reineclauden, auch ein Geschmack, der dem Kameraden Bentwitsch von weither kam. Bei der Großmutter hatte es Reineclauden gegeben, und der süße Saft war durch den Seitenschliff der Kristallteller auf die Tischdecke getropft. – Nachdem Matthias alles bezahlt hatte, muschelte Bentwitsch hinter der Theke mit der Wirtin herum, was dazu führte, daß er sich zwei Pfund des heroischen Klein-Wense-Schinkens unter den Arm klemmte.

    Es schloß sich ein Spaziergang an, zuerst durchs Dorf, unter den Platanen dahin, an dem Neubau vorüber des LANDHANDEL CORDES, die Türen mit halbrunden Bogen, und die Trümmer des alten Hauses daneben, von letztem Flieder bestanden.
    Auch das Kallroy-Haus wurde vorgeführt, in dem rote Arbeiterkinder sich erholt hatten, vielleicht sogar aus Wuppertal? Und die Bilder gar nicht so schlecht, nicht jedermanns Geschmack, aber von der Fachwelt durchaus anerkannt.
    Rote Arbeiterkinder durchgefüttert und im KZ geendet, keiner wisse genau, warum? Angeschwärzt, denunziert – so was gibt es ja.
    Im Vorübergehen wurde Ellinor gesichtet:«Wir haben Glück! Das ist seine Tochter.»Matthias winkte ihr zu, wie sie da aus ihrem Auto was herausholt oder hineintut, sie winkte nicht zurück, was sich daraus erklärte, daß sie nur von hinten zu sehen gewesen war.

    Und dann gingen sie die Eische entlang und ins Moor, die Kinder unentwegt in die Gegend schreiend, der Kamerad mit dem Schinken unterm Arm und seine Frau mit ihren Pfennigabsätzen. Über die Heide gingen die Fremdlinge auf Zehenspitzen wegen der Kreuzottern, die hier doch vermutlich hausten, und im Moor schwankte der Weg, und Matthias erzählte unheimliche Geschichten, die an die Kinder gerichtet waren, von Leichen, die man beim Torfstechen gefunden hat, und von ganzen Hirschen und Bären und von einem einsamen

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