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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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angehört, doch nun wurde es ernst: Er war schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, daß er dem Ortslehrerverein beitreten müsse. Man könne sich die verschiedenen Verbesserungen, in der Besoldung zum Beispiel, nicht wie gebratene Tauben in den Schoß fallen lassen, man müsse doch zur Innung halten, mitgefangen, mitgehangen!
    In keiner Schulmeisterwohnung des Schulaufsichtskreises Kreuzthal hatte eine SPD-Fahne die zwölf Jahre überdauert, weder unter einem Bett noch auf einem Dachboden, und eigentlich waren alle diese Herren in der Partei gewesen, weil sie mußten, wie sie sagten, weil sonst die Stelle hopps gegangen wäre, und wie hätte man dann die Familie ernähren sollen?
    Jetzt aber wieder SPD, geschlossen, schon um den Pastor zu ärgern.

    Schließlich folgte er der Einladung – sie wurde so dringlich ausgesprochen, daß er fürchten mußte, es werde Schwierigkeiten geben, wenn er da nicht hingeht -, er wollte sich die Sache wenigstens mal ansehen. Freiwillige Feuerwehr, Gesangverein, Posaunenchor – gleichviel, nun fuhr er nach Sassenholz hinüber, und dort im Hinterzimmer des Gasthofes saßen sie schon, mit Zigarre und ohne, die Alkoholiker mit Bier, die blassen Vegetarier mit Most.
    Ein Buntglasfenster, das einen Sämann zeigte, der über den Acker schreitet und Korn aussät, verlieh dem Hinterzimmer,«Clubraum»genannt, seine besondere Note.

    Kollege Stichnoth, der sich bei der Vereidigung den Hinweis auf den lieben Gott verbeten hatte, war bereits Mitglied des Vereins, er war sogar Schriftführer, saß also neben dem Vorsitzenden. Van Dechterong eröffnete die Sitzung, er begrüßte den jungen Kollegen aus Klein-Wense, der es nun auch geschafft hatte, zu ihnen zu stoßen. Allerhand Schlimmes erlebt, wovon wir nun nicht weiter reden wollen. Nicht auszudenken, wenn der Verein eines Tages keinen Nachwuchs mehr bekäme!
    Dann forderte er die Runde zur Totenehrung auf. Es war der Kollege Hilferding gestorben, der wegen unmäßiger Züchtigungen von der Schulbehörde bereits mehrmals verwarnt worden war. Die Bauern hatten ihre Kinder aus seiner Schule nehmen wollen, sich dann aber doch nicht getraut. Wer konnte denn wissen, ob man sie das nicht entgelten ließe, Lehrer halten letzten Endes doch alle zusammen, das kennt man ja. Also: Zigarren ablegen, Hände vorm Geschlechtsteil falten – Augen schließen und bis zwanzig zählen.
    An diesem Tag war die Runde ansonsten froh gestimmt, denn es gab etwas zu feiern: Die Besoldungsnovelle hatte alle Hürden genommen, sie war nun also«durch». Das bedeutete, daß sich das Gehalt der Lehrer nahezu verdoppeln würde! Endlich hatte der Staat es kapiert, daß er keine Lehrer kriegt, wenn er seine Beamten nicht menschenwürdig bezahlt. Kollege Rennenfranz in Haufe würde sich einen neuen Tuschkasten kaufen können und Neidholt eine Skiausrüstung für die ganze Familie. In Lappland hatte er auf Skiern die Kameraden aus dem Feuer geholt, in weißem Tarnanzug. Aber wie viele er auch gerettet hatte – an den einen, den er liegenließ, mußte er immerfort denken.
    Matthias dachte an die«Bremer Rolle», die er sich nun würde leisten können, mit halbrunden Glasscheiben drin und noch vollständigen Beschlägen, außerdem den kleinen zarten Spiegeltisch aus Mahagoni, der beim Trödler stand, zwar alles andere als bäuerlich, aber billig! billig!

    Rennenfranz hatte ein paar seiner handgemalten Aquarelle mitgebracht, auf den Fensterbänken hatte er sie ausgestellt, eines neben dem anderen. Meistens Blumenstücke, aber auch die schwarze Eische, die in verschiedenfarbigen Grünstreifen der Felder ihre Schleifen zog. Die Bilder waren mit«25 M»ausgezeichnet, und Rennenfranz hegte die wahnsinnige Hoffnung, daß vielleicht einer der Kollegen seiner Ehefrau eins schenken würde, zum Geburtstag vielleicht oder zum Hochzeitstag?

    Nach Kaffee und Kuchen, Bier und Schnaps hielt ein hagerer Lehrer aus Middelum einen Vortrag über Aufsatzerziehung, den er noch aus seiner Seminarzeit im Schubfach liegen hatte.«Wie zünde ich eine Kerze an?»hieß der Aufsatz, den er hier nun methodisch auseinanderfächern wollte.
    Obwohl man ihn wiederholt darauf aufmerksam machte, er könne ruhig im Sitzen sprechen, hielt er seinen Vortrag im Stehen, die Brille in der Hand, deren Stengel er gelegentlich in den Mund steckte, was den Anschein erweckte, als denke er intensiv nach. So viel Anstand besäße er noch, daß er steht, wenn er seinen Kollegen einen Vortrag hält, auf den er sich

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