Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
Glaubensdrill, den sie vielleicht selbst noch erduldet haben, nicht mehr an ihre Kinder weitergeben wollen. Wer seine Kindheit im Osten Deutschlands verbracht hat, machte zudem in vielen Fällen die Erfahrung, wie der Gottesglaube von der Diktatur unterdrückt wurde und sich erst gar nicht im Alltag verankern konnte.
Die meisten von uns sind daher in einer Welt groß geworden, in der ein Leben in Demut vor dem Herrn nicht mehr zum Lifestyle passt – wir wollen heute eben nicht erst am siebten Tag chillen, sondern dann, wenn es uns genehm ist, und sonntags lieber ausschlafen, anstatt in aller Herrgottsfrühe in den Gottesdienst zu rennen. Religion ist für viele im Alter zwischen null und fünfzig nur noch ein Relikt aus längst vergangener Zeit, ein Oldtimer, von dem wir annehmen, dass er bald in der Schrottpresse der Geschichte landen wird.
Sogar unser Körper passt sich dem kirchenfernen Lebenswandel an: Wer als Kind nicht auf den Glauben an Gott geeicht wird und ohne religiöses Bezugssystem aufwächst, kann den heißen Draht zum Herrn im Hirn später nur schwer aktivieren. Dies zeigt ein Experiment der Theologin Nina Azari, die die Hirnaktivität von Atheisten und Gläubigen untersucht hat. Die Probanden sollten einen der Evergreens der Bibel rezitieren, den Psalm 23 »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«. Während bei den Gläubigen bestimmte Hirnareale ansprangen, die Selbst- und Fremdwahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Erinnern und die Einschätzung sozialer Relationen steuern, ging bei den Atheisten kein Stern über Bethlehem auf. Im Gegensatz zu anderen Glaubensforschern kam Azari so darauf, dass es keine alleinige physische Grundlage dafür geben kann, ob jemand glaubt oder nicht. Neurotheologen wie Andrew Newberg oder Michael Persinger sorgten nämlich für Aufsehen, weil sie meinten, sie hätten im menschlichen Gehirn ein Areal entdeckt, mit dem wir Gott wahrnehmen können. Azari ist hingegen überzeugt, dass das alleine nicht reicht: »Religiöse Erfahrung wird von früheren und gegenwärtigen Überzeugungen strukturiert.« Ob uns beim Beten oder im Gottesdienst gelegentlich die Erleuchtung ereilt, hängt also ganz wesentlich davon ab, wie unser Umfeld uns geprägt hat und mit welchen Werten und Vorstellungen wir ausgestattet sind.
Gottesunterwürfigkeit und Gebetsglück sind daher für alle, die nicht von der Fraktion Fromm aufgezogen wurden, ein mehr oder minder fremdes Konzept und die Kirche mit all ihren Riten und Geboten eine seltsam anmutende Organisation. Ein allwissendes, überirdisches Wesen als Schöpfer der Welt? Das war für uns nie mehr als eine mittelmäßige Kirmesattraktion. Wir glauben nicht mehr daran, dass regelmäßige Kirchenbesuche und Gebete die Chancen auf ein himmlisches Nachleben großartig steigern – Songs wie »Paradies« von den Toten Hosen oder »Highway to Hell« von AC/DC kennen wir besser als gediegene Kirchenlieder, und das Internet als unsichtbares allwissendes Netz kommt uns plausibler vor als der Mann auf der Wolke. Wir haben für uns beschlossen, dass man auch wunderbar ohne himmlischen Beistand durchs Leben kommt. Wir sind eine Generation ohne Gott, eine Generation Gottlos.
»Was das Glück betrifft, so haben weder Erfahrung noch Beobachtung in mir den Eindruck erweckt, dass Gläubige im Durchschnitt glücklicher oder unglücklicher seien als Glaubenslose.«
Bertrand Russell
Natürlich haben auch wir Gottlosen in der Schule einen Grundkurs über die wichtigsten Funktionen des Christentums genossen, allerdings ohne damit richtig warm zu werden. Von strenger Glaubenslehre konnte im Religionsunterricht ohnehin nicht die Rede sein, denn bis zur siebten Klasse redete man nur über die Wunder Jesu und die Abenteuergeschichten in der Bibel. Spätestens mit der Pubertät begannen wir unbequeme Fragen zu stellen, die unsere Lehrer in Erklärungsnot brachten. Und daher gab es im weiterführenden Religionsunterricht oft keine theologische Tiefenschürfung, sondern Fragen zu beliebten sozialen Diskussionsstoffen wie Arbeitslosigkeit, Hunger in der Welt, Todesstrafe und Sterbehilfe – alles wurde über drei Ecken auf die christliche Moral heruntergebrochen. Heute kommt es uns darum ganz normal vor, wenn zu allen möglichen sozialen Problemen immer auch ein Kirchenmann seinen Senf in der Talkrunde dazugibt.
An der schulischen Seichtheit des Religionsunterrichts hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht viel geändert: Da dieser im bundesdeutschen
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