Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
»erwecklichen Appell eines Pfingstlertums« auf. Allmählich stellt sich die Kirchenstimmung ein, die wir noch aus Jugendtagen kennen: Es ist früh, es ist kalt, wir sind müde, es ist tierisch öde. Wenigstens sind die Kirchenfenster schön, die in buntem Glanz erstrahlen, als die Sonne einfällt. Wir denken etwas melancholisch an das nette Frühstück im Museum Ludwig am vorangegangenen Sonntag zurück, bei dem wir unsere Brötchen mit Livemusik von einer Jazzband genossen haben. Irgendwie hatten wir da eher das Gefühl, unter Gleichgesinnten und im 21. Jahrhundert zu sein.
Plötzlich kommt Action in die Messe. Hinter uns am Eingang gibt es einen Tumult. Eine Frau kommt in den Dom gelaufen und schreit lauthals »Kinderficker!«. Die Gemeinde scheint das nicht zu stören, kaum einer dreht sich um, während die Türsteher die Dame unter Protest wieder nach draußen befördern. Als wir uns später eine Aufzeichnung der Messe im Internet anschauen, existiert diese Szene nicht mehr. Wahrscheinlich eine Weihrauchhalluzination.
Gegen Ende der Predigt fühlen wir uns dann doch noch angesprochen, denn Herr Sauerborn echauffiert sich über das grassierende Pseudochristentum. »Selbst die Muslime reden höher von Christus als die Vulgärchristen«, sagt er, »die ihren Glauben in einem undefinierbaren Brei von abgesunkenen Versatzstücken verloren haben.« Dass wir in der Sonntagsmesse zum Islam konvertieren sollen, hatten wir nun wirklich nicht erwartet.
Nach dem Gottesdienst sind wir ein wenig enttäuscht. Gemeinschaft? Sinnstiftung? Ruhe und Einkehr? Unsere Hoffnung auf eine heimelige Atmosphäre und viel Zwischenmenschliches ist in sich zusammengefallen wie Salzburger Nockerln beim Anstich. Ganz davon zu schweigen, dass wir spirituell auf keinen grünen Zweig gekommen sind, denn obwohl Glaube angeblich gut zu erklären ist, hat keiner ein überzeugendes Argument auf den Tisch gelegt. In ihrer Unverständlichkeit und Monotonie ist Kirche auf die gute alte Kölner-Domkapitelsamt-Weise eine Reise ins Mittelalter. Die Fernsehkommentare von Ulrich Deppendorf versprühen mehr zeitgenössische Ethik als die Predigt des Domkapitulars – moderne Weltanschauung gibt es hier nicht, genauso wenig wie junge Kirchenbesucher.
»Das Christentum wird abtreten. Es wird abnehmen und verschwinden. Ich brauche keine Argumente dafür, ich habe recht, und es wird sich erweisen, dass ich recht habe. Wir sind beliebter als Jesus. Ich weiß nicht, was eher verschwinden wird – Rock ’n’ Roll oder das Christentum.«
John Lennon
Die Welle des Christentums reiten heutzutage überwiegend Silver Surfer, das hat der Besuch im Dom gezeigt. Auch in den meisten kleineren Gemeindekirchen suchen sonntagmorgens fast ausschließlich graue Schöpfe ihren Schöpfer auf. Kein Wunder, denn der christlichen Botschaft fehlen moderner Pep und Eventcharakter – der Gedanke an ein gottgefälliges Leben kommt vielen junge Menschen ungefähr so aufregend vor wie ein abendfüllender Vortrag über Bausparvertrag und Riester-Rente. Von den Sechzigjährigen sagen daher zwar ganze sechzig Prozent, dass sie religiös sind, bei den Menschen unter dreißig sind es hingegen nur achtundzwanzig Prozent, die sich zu Gott bekennen. Angesichts des Austritts-Tsunamis, der Jahr für Jahr die Menschen aus den Kirchen spült, schrieb der Autor und Theologe Manfred Lütz 2010 im Magazin Chrismon : »Es ist Kirchenkrise, Christentumskrise, Gotteskrise.«
Vor allem aber sind wir wohl in einer Glaubenskrise. Besonders die junge Generation hat Gott die Gefolgschaft aufgekündigt: Nur noch siebenunddreißig Prozent der Jugendlichen glauben an den Allmächtigen, wie die aktuelle Shell-Studie zeigt. Ganz überraschend erscheint uns diese Entwicklung nicht. Wer wie wir nach der Mitte des vergangenen Jahrhunderts geboren wurde, ist in einer säkularen Welt aufgewachsen. Unsere Eltern haben uns in einer Zeit immer größerer moralischer Flexibilität für gewöhnlich zum selbstständigen Denken erzogen: In den Siebzigern wurden wir mit Flowerpower, dem Nahostkonflikt und dem Schulmädchen-Report groß, in den Achtzigern mit androgynem Boy-George-Pop, Emma-Feminismus und Friedensdemos und in den Neunzigern mit Kurt Cobain, Love Parade und Internetmodem. Im Zuge der immer freieren Entscheidung für oder gegen Glauben haben sich unsere Erzeuger dann oft auch selbst von den Zwängen der religiösen Erziehung befreit: Viele unserer Eltern haben für sich beschlossen, dass sie den
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