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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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schaffte es, vor dem virtuellen Schreibtisch stehen zu bleiben, ohne hindurch zu pflügen. Sie streckte die Hand aus und ergriff das Foto. Das Handschuhinterface war jämmerlich schlecht, voller Störungen und Überlappungen.
    Das Interface war höchst ungeeignet. Und ein kleines Wunder. Diese virtuelle Umgebung wurde sicherlich verschlüsselt, entschlüsselt, abermals verschlüsselt, anonym über Satelliten und Kabel geleitet, auf einem fremden Rechner mittels schlecht passender, veralteter Protokolle emuliert und anschließend mittels längst nicht mehr gebräuchlicher Grafikstandards dargestellt. Zerstückelt, weitergeleitet, komprimiert, gepackt, entpackt, dekomprimiert und wieder zusammengesetzt. Schlimmer noch, der Palast war alt. Virtuelle Gebäude alterten nicht wie reale, sondern durchliefen ähnlich wie ihre Besitzer subtile Prozesse geheimnisvollen Niedergangs. Ein kleiner Ziertisch in der Ecke litt ganz eindeutig an Datenverrottung; aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet hatte die Oberfläche alle Farbe verloren.
    Dennoch war der Ort nicht tot. Ein virtueller Gecko tauchte auf und hangelte sich an der Wand entlang, ein Hinweis auf die Heilkräfte der kleinen Unterprogramme, die sich noch immer durch die feuchten, dunkleren Winkel des Palastcodes hindurcharbeiteten.
    Mia nahm das Foto zögernd in die Hand. Als sie es vom Schreibtisch hochhob, platzte es wie ein Blutgerinnsel aus dem Rahmen hervor, sprang an die Gewebewand des Vorhanggeräts und entfaltete sich zu einem 360-Grad-Inferno hellroter Pixel von der Größe eines blutigen Daumenabdrucks. Mia zuckte zusammen, stellte das Foto wieder ab und betrachtete es durch die Membran ihres Armfächers hindurch von der Seite. Die in Griffweite befindlichen Gegenstände wirkten grafisch weitaus besser umgesetzt als die grässliche Bescherung an den Vorhangwänden.
    Das Digitalfoto im Rahmen stellte sie selbst dar. Diesmal ein anderes Bild: die ganz junge Mia Ziemann saß in ihrem roten Frotteebademantel auf einem Sofa mit zerschlissenem rotem Bezug und las in einer Zeitschrift, die schlanken, nackten Beine auf einen Couchtisch gelegt. Ihr Haar war feucht. Auf dem Boden waren Collegeutensilien verstreut: Hamburgerverpackungen, Musik-CDs, zwei Schuhe mit verschnürten Schuhbändern. Die junge Mia wähnte sich unbeobachtet. Sie wirkte entspannt, vertieft in die Zeitschrift.
    Ein weiteres Andenken Martins. Seine posthume Botschaft an die auserkorene Palasterbin.
    Mia öffnete eine Schublade des virtuellen Schreibtischs. Leer. Sie warf das Foto in die leere Schublade und schloss diese wieder. Sie öffnete eine weitere Schublade. Schere, Papier, Stifte, Klebeband, Stecknadeln. Trotz mehrmaligen Versuchs bekam sie die virtuelle Schere nicht richtig zu fassen. Sie öffnete die nächste Schublade, darin ein Karton mit bunter Kreide.
    Mia nahm ein Stück blassgrüner Kreide aus der Schachtel und wandte sich der Schiefertafel an der gegenüberliegenden Wand zu. Sie marschierte, auf der Stelle tretend, zu der verstörend schwankenden Tafel und streckte die Hand aus, die behandschuhten Finger fest um die virtuelle Kreide zusammengedrückt.
    Offenbar erforderte dieses Unternehmen weitaus bessere Handschuhe als die billigen Einmalhandschuhe, die sie trug. Die Kreide verschwand immer wieder in der Tafel, ganz so, als habe Lewis Carrolls Alice Anfälle im Spiegel. Nach längerem Kampf schaffte es Mia, eine krakelige Botschaft niederzuschreiben, das Erstbeste, was ihr eingefallen war:
     
    Maya was here
    Sie fügte noch ein Kilroy-Gesicht mit Knubbelnase hinzu und kritzelte ein paar kindische Miss-Kilroy-Locken auf Kilroys Birnenschädel. Dabei fiel ihr die Kreide aus der Hand, traf mit einem hörbaren Klicken auf dem Fußboden auf und verschwand. Nachdem sie mit den Armfächern ergebnislos danach gesucht hatte, wurde Mia nun ernstlich übel. Sie stöpselte das Touchpad aus, riss den Vorhang auf und trat aus der Kabine.
    Sie schluckte sauren Speichel, nahm die Armfächer ab und legte sie weg. Sie pellte sich die Handschuhe in Streifen von den Händen und warf sie in den Recycler. Für einen ersten Versuch hatte das mehr als ausgereicht. Sollte sie je wieder Warshaws Palast betreten, würde sie ihre topmodernen Datenhandschuhe von der Arbeit und eine ordentliche Brille benutzen. Mia fühlte sich elend. Und merkwürdig enttäuscht. Und gründlich verarscht. Und todtraurig.
    Schwer atmend bahnte sie sich einen Weg zwischen Stuarts’ Gerätephalanx hindurch und versuchte,

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