Heiliges Feuer
wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie ging bis zu den neuen Geräten am anderen Ende des Schuppens. Dort machte sie kehrt und ging zurück. Jetzt fühlte sie sich wieder besser. Umhergehen tat ihr immer gut.
»Komm mit mir nach Europa«, sagte eine Frau. Mia blieb stehen.
»Wir haben keine Zeit für Europa. Und auch kein Geld«, knurrte ein Mann. Die beiden saßen auf einer Decke auf dem Boden, auf einem Gang zwischen den Geräten. Der Mann trug eine große wattierte Jacke, schmutzige Leggings und große Stulpenstiefel; er hatte sich eine glitzernde Cyberbrille in die Stirn geschoben. Die Frau war sehr eigenwillig gekleidet, mit einem zeltartigen braunen Poncho, an dem mittels Hosenträgern eine weite Faltenhose befestigt war. Beide waren mit einer CAD-Vorrichtung beschäftigt. Die Bedienungshandschuhe hatten sie ausgezogen, fläzten sich nun auf der Decke und verzehrten Plätzchen aus einer Papiertüte.
Beide wirkten ziemlich schmutzig. Sie redeten zu laut. Ihre Gesichter waren eigentümlich faltenlos und geschmeidig. Ihre Gesten waren abgehackt. Offenbar regten sie sich über irgendetwas auf.
Sie waren jung.
»In Stuttgart könnte man das Polymer innerhalb von sechs Tagen spinnen«, sagte das Mädchen. »Vielleicht sogar innerhalb
von sechs Stunden.«
»Stuttgart ist keine gute Lösung. Hier haben wir wenigstens Kontakte.«
»Der alte Mann duldet uns hier vor allem deshalb, weil er uns beim Fummeln zuschauen will! Wir brauchen lebendige Menschen. Menschen wie wir. Einen Ort, wo es passiert. Nicht dieses Museum.«
»In Stuttgart würden wir es zu nichts bringen. Hast du eine Ahnung, wie hoch die Mieten in Stuttgart sind? Und außerdem, willst du damit sagen, wir wären nicht lebendig? Du und ich? Wir müssen auf unsere Art lebendig sein, dort, wo wir leben. Ansonsten wäre es bedeutungslos.«
Mia ging an ihnen vorbei und tat so, als höre sie ihnen nicht zu. Mr. Stuart stand hinter der Theke. Er wühlte gerade mit einem Multifunktionswerkzeug in den silbrigen Innereien eines kaputten Helms.
»Ich bin einstweilen fertig«, sagte Mia.
»Prima«, meinte Stuart gleichgültig und klemmte sich ein Cybermonokel ins Auge.
»Erzählen Sie mir von den beiden jungen Leuten dort drüben, die mit dem CAD-Gerät beschäftigt sind.«
Stuart starrte sie an, sein Monokel funkelte. »Machen Sie Witze? Was geht Sie das an?«
»Ich habe Sie schließlich nicht gefragt, in welche Netzwerke sie sich einklinken«, erklärte Mia. »Ich möchte bloß etwas über ihren persönlichen Hintergrund erfahren.«
»Ach so, kein Problem«, meinte Stuart erleichtert. »Die beiden sind in den Zwanzigern. Haben ständig irgendein kleines Projekt am Laufen, Sie wissen ja, wie das in dem Alter ist.
Keinerlei Zeitgefühl, jede Menge überschüssige Energie, den Kopf in den Wolken. Sie machen Mode. Sie versuchen es.«
»Ach.«
»Kleider für andere junge Leute. Sie macht die Entwürfe, und er setzt sie um. Sie sind ein Team. Eine Jugendromanze. Ganz reizend.«
»Wie heißen sie?«
»Nach ihren Namen hab ich sie nicht gefragt.«
»Womit bezahlen sie die Zugangszeit?«
Stuart schwieg vielsagend.
»Vielen Dank«, sagte Mia. Sie ging wieder zurück, um eingehender zu lauschen. Die jungen Leute waren verschwunden. Mia zog ihre Geldkarte aus dem Automaten am Eingang. Viel war nicht mehr drauf, denn Stuart knöpfte Fremden irrsinnig hohe Gebühren ab. Sie eilte auf die Straße.
Der Junge und das Mädchen hatten Rucksäcke geschultert und gingen hügelan zu einer Bushaltestelle.
Als der Bus eintraf, stieg Mia ebenfalls ein. Das Pärchen nahm hinten Platz. Mia setzte sich in ihrer Nähe auf einen freien Platz auf der anderen Seite des Mittelgangs. Die beiden beachteten sie nicht. Junge Leute nahmen alte Menschen nicht gern zur Kenntnis.
»Diese Stadt«, verkündete das Mädchen, »langweilt mich zu Tode.«
»Klar«, meinte der Junge und gähnte.
»Mir ist jetzt langweilig«, sagte das Mädchen.
»Du sitzt in einem Bus«, erklärte der Junge mit grenzenloser Geduld. Er wühlte in seinem Rucksack.
Mia holte die Sonnenbrille aus der Handtasche, setzte sie auf und tat so, als blicke sie den Mittelgang entlang. Drei Hunde und zwei Katzen waren an Bord. Weiter vorne verzehrten zwei gut gekleidete Asiaten mit Essstäbchen ein Gericht aus Pappkartons.
Das Mädchen öffnete den Rucksack, holte eine Klapperschlange heraus und hängte sie sich um den Hals. Die Schlange war wunderschön. Die geschuppte Haut wirkte wie Mosaikboden, aus großer
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