Heiliges Feuer
Sein Gesicht lief rot an. Er schulterte den Rucksack und stürmte mit polternden Stiefeln die Stufen hinunter.
Der Bus setzte sich wieder in Bewegung.
»Es tut mir Leid«, sagte Mia demütig.
»Das braucht es nicht«, meinte das Mädchen. »Ich hasse ihn! Er engt mich ein! Er glaubt, er könnte mir Vorschriften machen.«
Mia schwieg.
Das Mädchen runzelte die Stirn. »Ich habe noch nie öfter als zweimal mit einem Mann geschlafen, ohne dass er geglaubt hätte, mir Vorschriften machen zu können!«
Mia schaute hoch. »Wie alt sind Sie?«
Das Mädchen reckte das Kinn. »Neunzehn.«
»Wie heißen Sie?«
»Brett«, erklärte das Mädchen. Sie log. »Und Sie?«
»Maya.«
Brett kam zu Mia herüber und setzte sich neben sie. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Maya.«
»Freut mich ebenfalls, Brett.«
»Ich gehe nach Europa«, verkündete Brett. Sie wühlte wieder in ihrem Rucksack. »Wahrscheinlich nach Stuttgart. Das ist die bedeutendste Kunstmetropole. Waren Sie schon einmal in Stuttgart?«
»Ich war ein paarmal in Europa. Aber das ist schon ein paar Jahre her.«
»Waren Sie in Stuttgart, seit es wiederaufgebaut wurde?«
»Nein.«
»Waren Sie schon mal in Indianapolis?«
»Einmal mittels Telepräsenz. Indianapolis scheint mir ein unsicheres Pflaster zu sein.«
Brett bot Mia ein Papiertaschentuch an. Mia nahm es dankbar entgegen und putzte sich die Nase. Ihre Tränengänge waren außer Übung. Sie fühlten sich wund an und brannten.
Brett musterte sie mit unverhohlener Neugier. »Sie waren in letzter Zeit nicht mehr viel unterwegs, nicht wahr, Maya?«
»Nein. Das kann ich wirklich nicht behaupten.«
»Möchten Sie mich ein Stück begleiten? Vielleicht könnte ich Ihnen das eine oder andere zeigen. Hätten Sie Lust?«
Mia war überrascht und gerührt. Die Einladung traf sie unvorbereitet, doch das Mädchen wollte ihr einen Gefallen tun. »Ja, einverstanden.«
Brett stieg an der nächsten Haltestelle aus. Sie spazierten gemeinsam die Filmore Street entlang. Der Straßenrand war dicht mit Bäumen bestanden. Eine Giraffe weidete methodisch das Laub ab. Mia war überzeugt davon, dass die Giraffe vollkommen harmlos war, doch sie war das größte Stadttier, dem sie in San Francisco jemals begegnet war. Ein ziemlich exotisches Tier. Irgendjemand vom Stadtrat hatte Initiative gezeigt.
Brett schlenderte zunächst, dann zog sie allmählich das Tempo an. »Sie sind ziemlich gut zu Fuß«, sagte Brett. »Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Beinahe hundert.«
»Das sieht man Ihnen nicht an. Sie müssen verdammt smart sein.«
»Ich war bloß vorsichtig.«
»Leiden Sie beispielsweise an Arthritis, Inkontinenz oder irgendwelchen anderen seltsamen Gebrechen?«
»Ich habe einen empfindlichen Vagus«, antwortete Mia. »Nachts bekomme ich schon mal Krämpfe. Und ich habe Hornhautverkrümmung.« Sie lächelte. Das war ein interessantes Thema. Sie erinnerte sich noch an Zeiten, als Fremde miteinander über das Wetter geplaudert hatten.
»Haben Sie einen Freund?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Vor langer Zeit war ich mal verheiratet. Als es vorbei war, erschien mir dieser Aspekt des Lebens nicht mehr so wichtig.«
»Welcher Aspekt ist denn wichtig?«
»Verantwortung.«
»Das klingt nicht sonderlich aufregend.«
»Es ist nicht aufregend, aber wenn man keine Verantwortung übernimmt, achtet man nicht genug auf sich. Man wird krank und verfällt.« Diese Binsenwahrheit musste in den Ohren eines jungen Menschen ziemlich fatalistisch, sinnlos und morbid klingen. »Wenn man sehr lange lebt«, fuhr Mia fort, »verändert sich alles. Das Gefüge der Welt, die Politik, die Wirtschaft, die Religion, die Kultur und alles andere. Für diese Veränderungen war man mitverantwortlich, sie haben einem genützt, man hat sie selbst mitbewirkt. Man muss sich sehr anstrengen, um den Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden. Ein guter Bürger zu sein, erfordert eine Menge Arbeit und große Opfer.«
»Klar«, sagte Brett und lachte. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Brett führte sie in eine Mall - eine Ansammlung von Ramschläden in der Nähe der Haight Street. Eine Menge Leute waren da, ruhten sich auf den Bänken aus, betrachteten die Schaufenster, tranken Tinkturen in einem Cafe. Zwei Cops in pinkfarbenen Jacken beobachteten von ihren Fahrrädern aus die Menge. Mia ertappte sich dabei, dass sie zum erstenmal seit vielen Jahren vom Police Officer mit einem misstrauischen Blick bedacht wurde.
»Kennen Sie sich in diesem
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