Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Nebenhöhlen verordnet, in Deutschland ist der Anteil ähnlich hoch. Doch statt Antibiotika zu geben, sollten Ärzte in der Praxis allenfalls die unangenehmen Begleitsymptome behandeln, fordern die Autoren. »Antibiotika werden von Hausärzten viel zu oft verordnet«, sagt Jane Garbutt, die eine der Studien geleitet hat. »Wir hoffen, dass die Ärzte mit Hilfe unserer Untersuchung ihren Patienten erklären können, dass Antibiotika bei akuter Nebenhöhlenentzündung keine Abhilfe schaffen.« Tritt nach zehn Tagen überraschenderweise keine Besserung ein, könnten immer noch andere Therapieoptionen erwogen werden.
Blutzuckereinstellung – zu viel des Guten
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Im Fall der Diabetes-Behandlung kann es sogar schädlich sein – etwa wenn Ärzte versuchen, den Blutzucker von Diabetikern besonders stark zu senken. Eine große Untersuchung zeigte, dass durch eine intensivierte Therapie Spätfolgen der Zuckerkrankheit wie Gefäßschäden nicht verzögert werden. [51] Gegenüber der mäßigen Blutzuckersenkung gibt es keine Vorteile. Auch typische Komplikationen wie Nierenschäden, Nervenstörungen und Einschränkungen der Sehstärke treten bei aggressiver Blutzuckersenkung nicht später auf. »Spätfolgen entwickeln sich in beiden Gruppen ähnlich schnell«, sagt Faramarz Ismail-Beigi von der Uni Cleveland, der die Studie geleitet hat.
2008 musste die Accord-Studie mit mehr als 10000 Diabetikern, in der die moderate mit der strengen Blutzuckersenkung verglichen wurde, nach nicht mal vier Jahren überraschend abgebrochen werden. Unter Patienten mit intensivierter Diabetes-Therapie war es zu mehr Todesfällen und Herzinfarkten gekommen, so dass alle Teilnehmer auf die mildere Therapie umgestellt wurden. Für viele Ärzte war das ein Schock, denn sie hatten vermutet, dass der niedriger eingestellte Blutzucker Leben rettet und dazu beiträgt, dass Netzhaut, Nervenbahnen und Nierenkanälchen der Diabetiker länger von negativen Folgen des derangierten Zuckerstoffwechsels verschont bleiben. »Nur auf den Blutzucker zu starren bringt nichts«, sagt der Münchner Diabetes-Experte Martin Reincke.
In der Untersuchung war eine strenge Blutzuckersenkung mit einer Konzentration des glykosylierten Hämoglobins (HbA1c) von unter sechs Prozent angestrebt worden. Dieser Wert zeigt den Anteil des roten Blutfarbstoffs an, der an Glukose gebunden ist, und gibt Aufschluss darüber, wie gut der Blutzucker eingestellt war. Als moderate Blutzuckersenkung in der Studie galten HbA1c-Werte von 7 bis 7,9 Prozent zum Vergleich.
Dass die Intensivtherapie Nachteile mit sich bringt, ergibt die Auswertung der Accord-Studie. Demnach nehmen Patienten stärker an Gewicht zu. Zudem ist das Risiko für gefährliche Unterzuckerung um das Dreifache erhöht. Offenbar wollten die Studienautoren um Ismail-Beigi aber nicht deutlich sagen, wie riskant die intensive Blutzuckersenkung sein kann.
Wahrscheinlich sind die Forscher in Sorge, dass Ärzte wie Patienten aus den ernüchternden Ergebnissen der Accord-Studie den Schluss ziehen, dass es nicht mehr wichtig sei, den Blutzucker zu senken und Diabetiker gut einzustellen. »Das Schema in der Accord-Studie war wahrscheinlich zu aggressiv«, gibt Diabetes-Experte Ronald Klein von der Uni Wisconsin zu.
30 Prozent nutzlos – des Schlechten zu viel
Es geht nicht um des Guten zu viel. Es geht um zu viel Schlechtes, Überflüssiges, Schädliches. Immerhin 30 Prozent aller Gesundheitsausgaben in den USA gehen für nutzlose Untersuchungen und Behandlungen drauf, sagen Ärzte mehrerer Eliteuniversitäten Nordamerikas. »Das Problem ist unterschätzt und wenig untersucht«, kritisiert Wortführerin Deborah Korenstein. [52] »Wir müssen wissen, wie oft und wo diese Verschwendung vorkommt, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern.«
Ärzte sprechen von Überdiagnostik und Übertherapie, wenn medizinische Maßnahmen nutzlos sind oder Nachteile die Vorteile überwiegen. Die Autoren versuchen, Art und Ausmaß des Missbrauchs zu erfassen, und dokumentieren Dutzende sinnlose oder potentiell gefährliche Verfahren – dazu gehören häufig Krebstests, Tumormarker, Spiegelungen von Magen und Darm bei leichten Beschwerden, die Entfernung der Gebärmutter bei gutartigen Neubildungen, Bildgebung bei ordinären Rückenschmerzen und viele Handgriffe, Medikamentengaben und Untersuchungen mehr.
Besonders häufig wurde die Antibiotika-Gabe bei viralen Infekten der Atemwege
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