Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
geben, aber offenbar wird es gesellschaftlich akzeptiert.«
Raspe und sein Team hatten zufällig ausgewählte Einwohner von Freiburg und Lübeck angeschrieben und zu ihren Erfahrungen in der Arztpraxis befragt. Mehr als 2600 Erwachsene nahmen an der Erhebung teil. 41,7 Prozent der Befragten berichten, dass ihnen in den vergangenen zwölf Monaten IGeL-Leistungen angeboten wurden. Nur selten ging die Nachfrage von den Patienten aus. Am häufigsten »igelten« die Augenärzte, gefolgt von Gynäkologen, Urologen, Orthopäden und Hautärzten. Typische Untersuchungen sind die Messung des Augeninnendrucks bei Patienten ohne Beschwerden, Ultraschall des Unterleibs oder Bauchraumes ohne medizinischen Grund, umstrittene Krebstests, fragwürdige »Aufbauspritzen« und Laboruntersuchungen ohne Indikation. Während die angeblichen Vorteile der Angebote hervorgehoben wurden, informierten nur wenige Ärzte ihre Patienten über Risiken der IGeL. »Einige der Befragten fühlten sich durch Zusatzleistungen verängstigt, verunsichert oder zur Annahme der Leistungen gedrängt«, sagt Heiner Raspe.
Dass ihnen medizinische Leistungen versagt wurden, erlebten die Befragten am häufigsten bei Orthopäden, Allgemeinmedizinern, Haut- und Augenärzten. Für die Begründung der Mediziner, dass die Krankenkassen die Leistung nicht mehr erstatten würden, hatten die meisten Patienten kein Verständnis. Umso erstaunter waren jene 43,3 Prozent, dass ihnen die versagte Leistung später zum Selbstzahlen angeboten wurde – den meisten sogar noch im selben Gespräch.
Der Jahresumsatz mit IGeL wird in Deutschland inzwischen auf mehr als 1,5 Milliarden Euro geschätzt. Tendenz steigend. Ärzte achten dabei sehr wohl auf das Einkommensgefälle ihrer Klientel. Wer mehr verdient, wird häufiger gefragt, ob er zusätzliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen will. In IGeL-Zeitschriften wird betont, dass der Bedarf der Patienten geweckt werden müsse. Die Zielgruppe ist klar. Laut Analyse wurden 39 Prozent der Patienten mit dem höchsten Einkommen IGeL angeboten, in der niedrigsten Einkommensklasse waren es 19 Prozent. Ein erfahrener Internist beklagte sich in einem Leserbrief über seinen Berufsstand: »Die Praxis ist zum Basar verkommen.«
»Ich könnte kaum noch Patienten überweisen, wenn ich einen Facharzt suchen würde, der nicht igelt«, sagt Michael Kochen. Er erklärt seinen Patienten, was sie beim Augenarzt oder beim Urologen erwartet: »Ihnen werden Tests angeboten. Ihnen wird gesagt, dass Sie das unbedingt brauchen – aber das stimmt nicht.« Kochens ultimativer Rat an die Patienten ist daher einfach. Er hat sich angewöhnt, Patienten vor den kommerziellen Auswüchsen der Igelei zu warnen: »Wenn ich einen zum Augenarzt schicke, rate ich ihm, kein Bargeld mitzunehmen – leider gilt das inzwischen für viele Arztgruppen.«
Ein neuer Service soll es Patienten erleichtern, Nutzen und Nachteile der IGeL zu beurteilen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDS) hat eine Internetseite eingerichtet, auf der nach und nach alle IGeL bewertet werden ( www.igel-monitor.de ). Insgesamt gibt es ungefähr 350 IGeL, wobei sich viele kaum unterscheiden. Wer es eilig hat, kann mit Hilfe des IGeL-Monitors schnell erfahren, dass eine Lichttherapie zur Behandlung von winterlichen Stimmungseintrübungen zwar eine leicht positive Wirkung auf das Gemüt haben kann und damit besser wirkt als ein Placebo. Auf den zweiten Blick erfährt man allerdings, dass man sich die sechs bis zehn Euro für diese Igelei sparen kann, wenn man im Winter häufiger einen Spaziergang macht.
IGeL-Leistungen haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Es gibt zwar Ärzte, die nichts davon halten und auf das Igeln verzichten – sie sind allerdings in der Minderheit. Andere freuen sich über das zusätzliche Geschäft. Vor allem Fachärzte bieten IGeL an. Frauenärzte, Augenärzte, Urologen, Orthopäden und Hautärzte schlagen ihren Patienten pro Jahr 300- bis 600-mal eine IGeL vor, praktische Ärzte und Allgemeinärzte etwa 100-mal.
Der »graue Markt« in den Praxen wird kaum kontrolliert, oft werden keine Kostenvoranschläge gemacht und nicht mal Rechnungen gestellt. »Wir machen jetzt noch schnell eine Untersuchung«, habe der Augenarzt gesagt, dann den Augeninnendruck gemessen. Später musste der verdutzte Patient bei der Sprechstundenhilfe die Kosten begleichen, berichten etliche Menschen in Internetforen. »Obwohl vorgeschrieben, gab es in weniger als der
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