Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
für die jemand an den Pranger gestellt werden soll, sondern darum, aus Systemfehlern zu lernen und Konsequenzen daraus zu ziehen, damit sie künftig vermieden werden.« Erste Erfolge seien Ludwig zufolge zwar sichtbar, doch die Veränderungen mühsam und langwierig erkämpft. Unter www.embryotox.de finden sich beispielsweise unabhängige Informationen zur Sicherheit von Arzneimitteln während Schwangerschaft und Stillzeit. Und in der Priscus-Liste können Ärzte nachschauen, welche Medikamente für ältere Menschen gefährlich sind.
Auch Chirurgen-Chef Bauer sieht Fortschritte, seit die Operateure die Patientensicherheit zum Kernthema ihrer Jahrestagung 2005 gemacht haben: »Fast 80 Prozent der Kliniken gehen inzwischen nach OP-Checklisten vor, mehr als die Hälfte hat ein Fehlermeldesystem«, sagt Bauer. »Das erhöht die Sicherheit für Patienten, auch wenn wir uns schnellere Verbesserungen wünschen.«
Trotz der positiven Entwicklungen sehen Bauer wie Ludwig einen Trend, der die Qualität in der Medizin untergräbt. »Wir haben kaum noch die Zeit, uns Gedanken darüber zu machen, wo Fehler passieren«, beklagt Ludwig. »Der gefährlichste Einschnitt ist die Rationierung der Zeit«, sagt Bauer. »Wir kommen kaum noch dazu, im Team aus Ärzten, Pflegekräften und OP-Personal zu besprechen, was besser laufen muss.« Dabei sind gerade solche Runden der Kontrolle und Rückmeldung geeignet, falsche Routineabläufe aufzudecken.
»Die Ausbildung hat sich dramatisch verbessert und ist viel praxisnäher geworden«, sagt Martin Fischer von der LMU München, Experte für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin. »Das Problem ist die Übertragung in den beruflichen Alltag, hier verrohen die Sitten.« An fast jeder Medizinfakultät gebe es Trainingszentren, in denen steriles Arbeiten und die richtige OP-Vorbereitung geübt würden. »Das schleift sich nur leider ab, so wie keiner mehr den Fahrschulblick links-rechts-links draufhat, bevor er die Straße überquert«, sagt Fischer.
Die Praxis als Basar – Propaganda für Patienten
IGeL – ich hab’ da noch was für Sie
»Wollen Sie etwa erblinden?«, fragt die Sprechstundenhilfe des Augenarztes, und das ist eher als Drohung denn als Frage zu verstehen. »Wir können damit Prostatakrebs früh erkennen«, sagt der Urologe. »Der Test kostet 30 Euro, das sollte Ihnen Ihre Gesundheit wohl wert sein.« Welcher Patient könnte einer solchen Empfehlung mit warnendem Unterton widerstehen? Immer mehr Ärzte und Praxismitarbeiter werden in Kursen darauf getrimmt, das Gespräch mit Patienten in eine Richtung zu lenken. Ein Hinweis auf die drohende Zweiklassenmedizin oder die Bemerkung »Für Ihr Auto würden Sie doch auch ein paar Extras bezahlen« reicht oft aus, und der bei einer gesetzlichen Krankenkasse versicherte Patient zahlt drauf.
Das gilt in doppelter Hinsicht: Der Kranke muss die Kosten für die Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) selbst tragen. Und den Schaden hat er auch. Denn die meisten IGeL sind im besten Falle umstritten oder unnötig, im schlimmsten Falle sogar schädlich. Nur die Minderheit der Angebote, etwa eine sport- oder tauchmedizinische Untersuchung oder die Impfung vor Fernreisen, ist medizinisch sinnvoll, wird aber von Kassen nicht erstattet. Die Exzesse sind hingegen enorm: Manche Chirurgen nehmen 800 Euro dafür, die Schweißdrüsen unter der Achsel zu entfernen. Ein überflüssiger Eingriff. Ein Hausarzt verlangt für seine »Aufbaukur« – einen obskuren Vitaminmix – 250 Euro. Andere Mediziner berechnen für wirkungslose Schlankheitskuren ein dreistelliges Honorar.
Mit der Drohung, schwer zu erkranken, wird Kasse gemacht, das Personal bekommt Provision. Offenbar ist die Strategie erfolgreich, denn die Arztpraxis verkommt häufig zum Verkaufsstand. Immer mehr gesetzlich Krankenversicherten werden IGeL angeboten. Mehr als die Hälfte der Menschen hat bereits Erfahrungen mit den medizinisch fragwürdigen Leistungen gemacht.
Sozialmediziner der Universität Lübeck um Heiner Raspe haben den IGeL-Markt in Deutschland untersucht. [53] Jeder fünfte Patient gab an, dass ihm Leistungen vom Arzt versagt wurden. Mehr als 40 Prozent derjenigen, die darüber klagten, wurde die verwehrte Leistung aber später als IGeL wieder angeboten. »Ich fürchte, dass die Igelei weiter zunimmt«, sagt Michael Kochen, lange Jahre Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. »Eigentlich müsste es einen Aufschrei der Patienten
Weitere Kostenlose Bücher