Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Menschen glauben, dass es von Vorteil ist, wenn man mehr von etwas bekommt. Für Geld und Liebe mag das stimmen. Für Bauchfett und Schulden nicht. Auch nicht für die Medizin.
Ein einfacher Vergleich zeigt das. In Deutschland gehen die Menschen 18-mal im Jahr zum Arzt. Norweger gehen nur drei- bis viermal jährlich, und das liegt nicht daran, dass sie gesünder sind oder der Weg über die Fjorde so weit ist. Norwegische Ärzte bekommen eine Einschreibepauschale für ihre Patienten. Sie erhalten gleich viel Geld, egal, ob die Menschen gar nicht kommen, einmal im Jahr oder einmal in der Woche. Das fördert Medizin, die Patienten nutzt, nicht schadet. Es besteht also kein Grund – wie in Deutschland –, das Rezept für die Antibabypille für drei Monate auszuschreiben, damit in jedem Quartal ein Besuch fällig ist und Kontrollen »zur Sicherheit« angeboten werden können. Es reicht die Halbjahrespackung, die es in Deutschland übrigens auch gibt. Für norwegische Ärzte gibt es auch keinen Grund, Patienten nach unauffälliger Darmspiegelung nach zwei Jahren wieder einzubestellen, wie das viele deutsche Ärzte tun. Aus medizinischer Sicht reicht die nächste Untersuchung nach fünf bis zehn Jahren. Ach ja, Norweger haben eine höhere Lebenserwartung als Deutsche. Das wird sich so schnell wohl nicht ändern, denn Ärzte in Deutschland werden für Quantität bezahlt, nicht für Qualität. Und für Quantität bei Privatpatienten bekommen sie besonders viel.
In jüngster Zeit zeigten Studien, dass gesetzlich Versicherte länger auf eine Untersuchung warten müssen. Was im Einzelfall lästig ist, könnte sich als Überlebensvorteil herausstellen. Keine der Untersuchungen war dringend nötig. Trotz aller Warnungen vor einer Zweiklassenmedizin und Einzelfallberichten ist bei Notfällen bisher nichts von Unterschieden in der Wartezeit bekannt – egal, wie Patienten versichert sind. »Es ist wahrscheinlich, dass bei Privatpatienten in Deutschland eine Überversorgung vorliegt, die durchaus schädlich sein kann«, schreibt Peter Sawicki. Fällt die vielbeschworene Zweiklassenmedizin etwa zuungunsten der Privatversicherten aus?
Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass viel Medizin auch schaden kann. Too much medicine? Diese Frage stellte das renommierte »British Medical Journal« schon 2002. [41] Warum übereifrige Diagnostik und Therapie gefährlich sind, zeigt der PSA-Test auf Prostatakrebs. Er ist ungenau, zudem wachsen viele Tumore so langsam, dass die Männer sie nie bemerken würden. Daher gilt die Hälfte der Prostatakrebse als überdiagnostiziert und übertherapiert. Mehr als 20 Prozent der Männer werden impotent oder inkontinent durch die Operation oder Bestrahlung – und das, weil etliche von ihnen gegen etwas behandelt wurden, das nie Beschwerden verursacht hätte.
Bei Privatpatienten wird jede Leistung einzeln vergütet. Deshalb werden bei ihnen häufiger Tumormarker wie PSA bestimmt. Ihnen werden fragwürdige Aufbaukuren und Anti-Aging-Mittel aufgedrängt. Weil Fachverbände die Grenzwerte nach unten verschieben, gelten Blutdruck oder Cholesterin bei 75 Prozent der Erwachsenen als therapiebedürftig. Der Nutzen der Behandlung bei leicht erhöhten Werten ist nicht belegt, Privatversicherten wird sie öfter verordnet, Nebenwirkungen inklusive. In den USA wurde bei 15 Millionen von 22 Millionen Frauen, die keine Gebärmutter mehr haben, ein Abstrich am Gebärmutterhals entnommen. Vorsorge am fehlenden Organ gehört zu den harmloseren Nebenwirkungen.
In der Klinik ist das Los der Privatpatienten nicht besser. Es ist nicht leicht, Patienten am Chefarzt vorbeizuschleusen, sagt ein Kinderarzt aus München. Wer in Deutschland Chefarzt ist, war viel im Labor und auf Kongressen, wenig am Krankenbett. Als Chefarzt muss er die Klinik repräsentieren und verwalten. Die Kranken kennt er manchmal nur aus Erzählungen. Als kürzlich die Chefarztstelle an einer Uniklinik mit einem Kandidaten besetzt werden sollte, der die vergangenen Jahre in Laborkellern zugebracht hatte, regte sich Kritik – er habe doch kaum klinische Erfahrung. Aus der Berufungskommission hieß es, als Chef müsse er nicht Patienten behandeln, sondern die Klinik nach vorn bringen. Soll er sich fähige Oberärzte suchen für die Kranken, so der Rat der Kommission. Er bekam die Stelle.
Hat man Anspruch auf eine Chefarztbehandlung, und der Chef will tatsächlich selbst operieren, sollte man das unter Umständen als Drohung auffassen.
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