Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Umwelteinflüssen viel zu komplex.«
Damit unter dem Schlagwort personalisierte Medizin jedes Mittel zum Medikament gegen seltene Erkrankungen werden kann, werden immer neue Untereinheiten von Krankheiten definiert. PR-Kampagnen begleiten die Neuorientierung. Fast wöchentlich wird die Presse zu einer Konferenz über seltene Leiden oder individualisierte Therapien geladen. Mit Fotoausstellungen über seltene Leiden werden Laien auf das Thema aufmerksam gemacht.
Für Browman sind die Übertreibungen und Missverständnisse unter dem Etikett der personalisierten Medizin nicht nur ärgerlich, sondern sogar schädlich. »Wir sollten keine Zeit damit verschwenden, die personalisierte Medizin als wissenschaftliches Etikett zu etablieren«, fordert er. »Hinter einer Medizin, bei der sich tatsächlich die Menschen im Mittelpunkt befinden, steht zwar nicht die Mystik der Gene, aber dafür können wir das verändern, was Patienten erleben und durchmachen – und was wirklich für sie wichtig ist.«
Ärzte kritisieren, dass hinter der propagierten »individuellen Medizin« nicht Realität, sondern Wunschdenken steht. Fachleute werden deutlich. »Wer heute von personalisierter oder individualisierter Medizin spricht, redet von Science-Fiction«, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. »Vieles, was unter diesem Begriff verhandelt wird, klingt zwar attraktiv, ist aber wenig oder gar nicht belegt.« Ob und, wenn ja, wann Patienten davon profitieren könnten, sei völlig ungewiss. Hardy Müller vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse hält die individualisierte Medizin gar für »Etikettenschwindel und eine finanzielle Bedrohung des Gesundheitssystems«.
Trotz dieser vagen Aussichten boomt der neue Forschungszweig. In der einschlägigen Datenbank für medizinische Fachartikel »Pubmed« fanden sich zum Thema individualisierte Medizin im Jahr 2000 nur zehn Publikationen. 2005 waren es schon 93 und im Jahr 2010 bereits 910 Fachveröffentlichungen. Dafür muss man den Marketingstrategen der Pharmaindustrie ein Kompliment machen. Denn das Schlagwort von der »individualisierten Medizin« war noch in den 1990er Jahren ideologisch vereinnahmt von Naturheilkundlern, Kügelchendrehern und Kräuterfexen, die sich mit den Parolen individuell und ganzheitlich von der angeblich bösen und bornierten Schulmedizin abgrenzen wollten.
Inzwischen haben Arzneimittelhersteller den Begriff besetzt. Individualisierte Medizin steht heute für den Ansatz, mit Hilfe genetischer Marker (Biomarker oder Tumormarker) zu erkennen, welcher Patient von welchen Medikamenten in welcher Dosierung profitiert. Die moderne Kombination »molekular«, »bio« und »individuell« gilt als unschlagbar.
Zuvor galt freilich: Gute Ärzte haben Patienten schon immer individuell behandelt, ohne dass dies hätte betont werden müssen. Wird heute von individualisierter Medizin gesprochen, geht es hingegen um wirtschaftliche, forschungspolitische und gesundheitspolitische Interessen. Den Patienten kommt das nicht zugute. Denn die Pharmaindustrie, man muss es so deutlich sagen, steckt in der Krise. Viele lukrative Patente laufen aus. Echte Innovationen und Therapieverbesserungen wären dringend nötig, gerade in der Krebsmedizin oder zur Behandlung der multiplen Sklerose. Doch die Zahl der Medikamentenzulassungen hat sich seit den 1990er Jahren ungefähr halbiert, obwohl die Genehmigung immer schneller erfolgte. [55] Tatsächlich neu war aber nur ein kleiner Teil der Mittel. Thomas Lönngren, langjähriger Direktor der europäischen Arzneimittelbehörde EMA, hält gar 60 Milliarden der 85 Milliarden Dollar, die von der Pharmaindustrie weltweit jedes Jahr in die Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente fließen, »für verschwendet, betrachtet man, wie wenig neue Mittel dabei herauskommen«.
Andrew Witty, Vorstandsvorsitzender von GlaxoSmithKline, einem der weltgrößten Pharmakonzerne, hat 2010 im britischen Magazin »The Economist« erklärt, seine Aktionäre würden es sich nicht länger bieten lassen, dass so viel Geld ohne erkennbaren Nutzen investiert werde. [56] Die Branche der Arzneimittelhersteller hat daher längst den Kurs geändert. Statt verstärkt Mittel gegen Volkskrankheiten zu entwickeln oder auf die großen Blockbuster zu setzen, werden sogenannte Nichebuster beworben – teure, neue Medikamente, die für immer kleinere Zielgruppen mit immer selteneren
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