Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Hälfte der Fälle eine schriftliche Vereinbarung, für jede siebte Leistung gab es nicht einmal eine Rechnung«, beklagt Doris Pfeiffer, Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes.
Seit Ende der 1990er Jahre steigt die Anzahl der IGeL – nicht weil Kassen sinnvolle Leistungen kürzen, sondern weil immer mehr sinnlose Medizin im Angebot ist. Das Arzt-Patienten-Verhältnis verändert sich dadurch bedrohlich. Haben vor zehn Jahren nur neun Prozent der Patienten berichtet, dass ihnen IGeL angeboten wurden, waren es zuletzt mehr als 30 Prozent – in manchen Umfragen sogar die Hälfte. Doch wie sollen Kranke erkennen, ob der Doktor zu einer Behandlung oder Diagnostik rät, weil sie medizinisch sinnvoll ist, oder nur, weil sie die Kasse des Arztes aufbessert?
Der Arzt sei zum Verkäufer und der Patient zum Kunden geworden, beklagen Ärzte, die dem »Igeln« skeptisch gegenüberstehen. Sogar der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Köhler, mahnt seine Kollegen, es mit der »Igelei« nicht zu übertreiben. Beeinträchtigt wird das Bild des Arztes nämlich vor allem dadurch, dass viele IGeL mehr Schaden anrichten, als dass sie nutzen. Von den 24 zum Start des IGeL-Monitors untersuchten Leistungen wiesen elf eine negative Nutzen-Schaden-Bilanz auf, vier sogar eine deutlich negative. Der Test auf Toxoplasmose bei Schwangeren (14 bis 16 Euro) beispielsweise ist medizinisch äußerst fragwürdig. Die von Katzen übertragene Infektion kann beim Ungeborenen Schäden verursachen, wenn sich die Frau erstmals infiziert. Es gibt aber keine Belege dafür, dass infolge des Tests weniger Kinder angesteckt werden. Wenn die Diagnose aber weitere Tests nach sich zieht, kann es beispielsweise durch eine Fruchtwasseruntersuchung zur Fehlgeburt kommen.
Individualisierte Medizin? Etikettenschwindel und Science-Fiction!
Es ist der Traum vieler Ärzte und Patienten. Die Vision einer Medizin, die immer öfter nicht nur lindern, sondern heilen kann. Die auch bei schweren Krankheiten wie Krebs eine Kur findet, die den Menschen Jahre voller Wohlbefinden und frei von Leid bietet. Den Weg zu einer solchen Medizin der Zukunft sollen maßgeschneiderte Medikamente ebnen, schon ist von einer Revolution der Therapie die Rede. Unter den Schlagwörtern »individualisierte« oder »personalisierte« Medizin wird das verführerische Konzept beworben.
Für Patienten klingt es nach einer phantastischen Nachricht. Endlich wollen sich die Ärzte wieder stärker den Kranken zuwenden, deren Ängste und Nöte mehr beachten, sich empathisch zeigen und das individuelle Umfeld berücksichtigen. Patienten beklagen sich schließlich schon lange darüber, dass ihre familiäre und soziale Situation, berufliche Belastungen und Alltagsdinge zu wenig in Diagnosefindung und Behandlung einbezogen werden. Wie sonst sollte der Begriff »personalisierte Medizin« verstanden werden, wenn nicht als längst nötige Besinnung der Medizin auf den Kern der Heilkunde – auf ein intensives Arzt-Patienten-Verhältnis, das von Respekt und Verständnis geprägt ist?
»Das Gegenteil ist der Fall«, schimpfen Ärzte um George Browman. [54] »Es geht bei der personalisierten Medizin um hochtechnisierte Forschung, um Gene, Proteine und den Zellstoffwechsel. Hier werden Patienten in die Irre geführt, und die Konfusion, die durch den Begriff entsteht, bringt weitere Nebenwirkungen mit sich.« Denn unter personalisierter Medizin verstehen die meisten Laien eine patientenzentrierte Behandlung, in der es um die Kommunikation zwischen Arzt und Patient geht oder um Wege der Krankheitsverarbeitung. Tatsächlich aber versteckt sich hinter der Floskel von der personalisierten Medizin eine PR-Strategie von Pharmaindustrie und interessierten Wissenschaftlern. Die Arzneimittelhersteller haben schon seit Jahren keinen Blockbuster mehr auf den Markt gebracht. Viele angeblich neue Präparate sind Nachahmungen oder Variationen des Bekannten. Die Marketingabteilungen der Pharmamultis versprechen dennoch maßgeschneiderte Mittel für eine Medizin der Zukunft, die sich hauptsächlich aus der Entschlüsselung des Genoms speist und Medikamente verspricht, die auf molekulare Ziele gerichtet sind.
Für Browman werden mit dem Loblied auf die personalisierte Medizin falsche Erwartungen geweckt. »Wir sollten nicht damit rechnen, dass die großen Volksleiden bald besiegt werden«, sagt er. »Dazu ist das Wechselspiel zwischen Genen, Proteinen, dem Stoffwechsel und Myriaden von
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