Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
1700 Probanden standen zur Verfügung, als die neuen Medikamente eingeführt wurden. Das ist zwar eine Menge, reicht aber bei weitem nicht aus, um schwerwiegende Probleme zuverlässig zu erkennen und die Menschen vor Gefahren durch neue Pharmaka zu schützen.
Eine massive Nebenwirkung, die nur bei jedem tausendsten Patienten auftritt, fällt bei 1700 Probanden statistisch nicht mal auf. Nehmen hingegen eine Million Patienten das Mittel, sind tausend Menschen davon betroffen. Aus diesem Grund betrafen nahezu alle Arzneimittelskandale Medikamente wie Lipobay und Vioxx, die teils schon jahrelang im Markt eingeführt waren. Die Autoren um Gundert-Remy fordern »formale Vorschriften und gesetzliche Regelungen, um die zum Zulassungszeitpunkt verfügbare Datenbasis zu verbessern«. Dann könnte endlich gelten, dass nur die Medikamente teuer sein dürfen, deren Zusatznutzen tatsächlich nachgewiesen worden ist.
Die größte Gefahr für Patienten
In Franken wurde einem Patienten das falsche Bein amputiert, in Hessen einer Frau der gesunde statt des kranken Lungenflügels entfernt. Bis zu 200-mal im Jahr wird in Deutschland das falsche Organ operiert. Tausende Patienten kommen jährlich zu Schaden, weil Medikamente verwechselt oder falsch dosiert werden. In Deutschland ziehen sich mindestens 500000 Patienten jedes Jahr im Krankenhaus Infektionen zu. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit und andere Initiativen haben erreicht, dass immer häufiger über Behandlungsfehler diskutiert wird. Mit einer einfachen Checkliste vor Operationen kann ein Drittel der Komplikationen vermieden werden. Trotz dieser Fortschritte schlagen Ärzte der Johns Hopkins University in Baltimore Alarm: Die größte Bedrohung für Patienten sei demnach nicht eine fehlerhafte Behandlung. Eine viel größere Gefahr für Patienten seien falsche Diagnosen, so die Mediziner.
Ärzte fordern daher neue Ansätze, um die Zahl übersehener, falscher oder verspäteter Diagnosen zu senken. [117] 40000 bis 80000 Menschen sterben demnach jedes Jahr in amerikanischen Kliniken aufgrund fehlerhafter Diagnosen. Etwa 14 Prozent der Nebenwirkungen in Kliniken gehen auf Irrtümer in der Diagnostik zurück – neun Prozent auf Medikationsfehler. »Es geht nicht darum, einzelne Ärzte zu bezichtigen«, sagt David Newman-Toker. »Das gesamte System muss optimiert werden und profitiert davon, wenn die diagnostische Genauigkeit verbessert wird.«
Ein Problem in Notaufnahmen bestehe beispielsweise darin, neu aufgetretene Kopfschmerzen richtig zu deuten. Da dieses Symptom zumeist harmlos ist, schätzen Ärzte das Risiko solcher Patienten oft als niedrig ein und behandeln sie später als die vermeintlich akuteren Notfälle. Ist jedoch eine Hirnblutung Ursache der Kopfschmerzen, kann die Verzögerung tödlich sein. Eine einfache Checkliste könnte helfen, bedrohliche von harmlosen Kopfschmerzen zu unterscheiden und damit auch die Zahl der jährlich mehr als 150000 Schlaganfälle in Deutschland zu verringern. Ähnliche Checklisten haben bereits dazu beigetragen, dass Blutvergiftungen im Krankenhaus seltener auftreten.
Neben Checklisten fordern die Autoren, dass sich Ärzte und Ausbilder stärker auf klassische Untersuchungsmethoden wie Tasten, Sehen, Abhorchen und Abklopfen besinnen. Zudem müssten fehleranfällige Handlungsketten in der Klinik überprüft werden. »Nicht immer bekommen die Patienten die Diagnostik, die sie brauchen«, sagt Newman-Toker. Dass Technik allein nicht weiterhilft, ist belegt. So wertete eine Studie vor Jahren Fehldiagnosen in der Zeit um 1959, 1969, 1979 und 1989 aus. In diesem Zeitraum hatten Ultraschall, CT und Kernspin Einzug in den medizinischen Alltag gehalten. Trotz des technischen Fortschritts ging die Zahl der Fehldiagnosen nicht zurück. Zwischen 1959 und 1989 lag der Anteil nicht oder falsch erkannter Leiden konstant bei etwa zehn Prozent.
Alt, krank und falsch behandelt
Alte Menschen sind in den meisten Kliniken die größte Patientengruppe. Aus Sicht der Ärzte haben sie allerdings komplizierte Eigenschaften: Sie werden häufiger krank als junge, leiden oft an mehreren Gebrechen gleichzeitig, und sie erholen sich langsamer von einer Krankheit. Die Medizin hat sich aber bisher nur unzureichend auf diese Klientel eingestellt: Die Leitlinien und Therapieempfehlungen berücksichtigen kaum, dass alte Menschen anders leiden und anders krank sind als junge. Wie eine Untersuchung im Februar 2012 zeigte, verordnen viele Ärzte Pharmaka,
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