Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
alle verfügbaren Daten zusammenzutragen, bestehe Fensch zufolge nicht. Das IQWIG hat sich 2005 mit dem Verband forschender Arzneimittelhersteller darauf geeinigt, dass Pharmafirmen dem Institut Daten zur Auswertung überlassen. Im selben Jahr erklärten die Arzneimittelhersteller in einer werbewirksam inszenierten Selbstverpflichtung, ihre Informationen zu klinischen Studien offenzulegen. Wie viel diese Behauptungen wert sind, zeigte sich 2009.
»Die Hälfte aller begonnenen klinischen Studien gelangt nicht in die Öffentlichkeit«, sagt Gerd Antes. »Alle Beteiligten neigen dazu, das nicht zu publizieren, was ihnen nicht gefällt – das gilt nicht nur für die Industrie.« Forscher tragen auch zu dieser Schieflage bei. Eine Studie zeigte, dass 80 von 100 eingereichten Artikeln eine positive Aussage enthielten. [106] Auch Mediziner schreiben lieber, dass eine Behandlung hilft, als dass sie nicht hilft.
Die Praxis der selektiven Veröffentlichung, die im Englischen als »publication bias« bezeichnet wird, ist eine der häufigsten und tückischsten Fehlerquellen in der Medizin und führt zu einem geschönten Bild – die Wirkung von Therapieverfahren und medizinischer Diagnostik wird überschätzt. Für besonders unfair halten es Forscher, dass sie häufig nicht einmal davon wissen, dass und wie viele unveröffentlichte Studien existieren.
Im Fall der Mittel gegen Schwermut hat die Zurückhaltung von Daten eine besondere Vorgeschichte. In den vergangenen Jahren haben mehrere Wissenschaftlerteams gezeigt, dass etliche Antidepressiva in der Fachliteratur viel zu positiv dargestellt werden. Wurden auch die Daten hinzugezogen, die erst auf Drängen von Kontrollbehörden oder nach intensiven Nachforschungen zugänglich wurden, fiel der Nutzen der Medikamente deutlich geringer aus oder war in einigen Fällen nicht mehr nachzuweisen. »Die Schäden durch Studien, die in der Schublade bleiben, sind immens«, sagt Antes. »Wir brauchen endlich öffentliche Register mit allen Studien, die begonnen werden. Die Forschung an und mit Patienten ist keine Privatsache von Wissenschaftlern oder Firmen.«
Patienten in Gefahr
Im Tollhaus der Medizin
Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht. Sie liebt mich … An diesen amourösen Abzählreim mit der Blume fühlte man sich erinnert anlässlich der wechselhaften Empfehlungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur Gefährdung durch französische Brustimplantate zum Jahreswechsel 2011/12. Ähnlich willkürlich, wie sich die Frage nach der Liebesgunst beim Zupfen der Blütenblätter an botanischen Launen ausrichtet, scheint die Gesundheit der Frauen vor allem vom Zufall und einer robusten Konstitution abhängig zu sein. Von staatlicher oder anderweitiger Kontrolle zur Sicherheit der Patienten hingegen keine Spur.
Wie sonst ist es zu verstehen, dass betroffenen Frauen einen Tag vor Heiligabend 2011 vom Bundesinstitut noch empfohlen wurde, sich nicht pauschal die Implantate des französischen Herstellers PIP entfernen zu lassen – zwei Wochen später riet die Bundesoberbehörde hingegen dazu, sich die Silikonkissen »als Vorsichtsmaßnahme« doch entnehmen zu lassen. Zu dem Gesinnungswandel hätten »zunehmend eingehende Mitteilungen« von Ärzten, Fachgesellschaften und Kliniken über weitere Risiken beigetragen.
Man würde gerne wissen, womit sich die 1000 Mitarbeiter der in Bonn ansässigen und dem Gesundheitsministerium zugeordneten Behörde den ganzen Tag beschäftigen. Eigentlich gehört es zu ihren Kernaufgaben, gesundheitliche Gefahren durch Arzneimittel und Medizinprodukte zu erkennen und von der Bevölkerung abzuwehren – und nicht erst dann verschämte Warnhinweise bekanntzugeben, wenn Patienten und Ärzte längst im großen Maßstab Alarm geschlagen haben. Ein zur bloßen Nachrufbehörde verkümmertes Institut, das Medikamente und medizinische Hilfsmittel zu Grabe trägt, wenn sich vielfach gezeigt hat, wie lausig sie wirken oder wie gefährlich sie sind, braucht niemand. Vielmehr wäre eine gründliche Kontrollbehörde in vorbeugender Mission gefragt, die diesen Namen verdient und Menschen vor Schaden bewahrt, statt hinterher in das Wehklagen einzustimmen.
Doch Sicherheit und Schutz der Patienten sind anscheinend politisch nicht gewollt. Die Zulassung sogenannter Medizinprodukte in Deutschland ist ein Witz, und zwar ein schlechter. Ob Herzschrittmacher, Gelenkersatz, Röntgenröhre oder Gefäßstütze: Hersteller müssen lediglich
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