Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Expertengremien zur Behandlung einzelner Krankheiten erstellt worden«, sagt Altersmedizinerin Cynthia Boyd. »Den Ärzten, die es mit alten Menschen zu tun haben, die an mehreren Krankheiten leiden, ist damit aber nur wenig geholfen.« Das Problem ist allerdings methodischer Art, denn die gegenwärtige Medizin stützt sich auf klinische Studien, die sich nur bei Menschen mit nur einer Krankheit relativ einfach durchführen lassen. Forschung wird zudem meist an Patienten mittleren Alters betrieben, obwohl die Mehrheit der Patienten alt ist und an mehreren Gebrechen leidet. Deshalb gibt es für die Mehrzahl der Kranken, nämlich die Alten, die Kinder (und auch die Frauen), wenige gesicherte Forschungsergebnisse.
Kittel des Schweigens
Patienten fühlen sich oft auf verlorenem Posten. Haben sie den Verdacht, Opfer eines Kunstfehlers zu sein, fällt der Beweis schwer. In der Medizin ist der offene Umgang mit Fehlern – anders als bei Piloten – häufig tabuisiert oder gilt als Schwäche. Zudem können sogar Sachverständige oft nicht unterscheiden, was Nebenwirkung, tragischer Verlauf ohne Fremdverschulden oder Behandlungsfehler ist.
»Es fehlt an einer bundeseinheitlichen Statistik, in der alle Behandlungsfehler gesammelt werden«, sagt Andreas Hoeft, Leiter des Instituts für Patientensicherheit der Uni Bonn. »Daten von Gutachterkommissionen oder Versicherern bilden nur einen Ausschnitt ab.« Aus großen Studien in anderen europäischen Ländern ist bekannt, dass zwei bis acht Prozent aller Krankenhauspatienten vermeidbare Komplikationen erleiden. »Solche Studien gibt es für Deutschland nicht«, beklagt Hoeft. Da Erhebungen mangelhaft sind, ist unklar, wie viele Menschen durch Ärztepfusch sterben. »Nach seriösen Schätzungen haben 0,1 Prozent aller Behandlungen im Krankenhaus den Tod zur Folge«, sagt Hardy Müller vom Aktionsbündnis Patientensicherheit. Demnach würden 17500 Menschen jedes Jahr in einer deutschen Klinik durch Kunstfehler umkommen.
Das ist aber bei weitem nicht die vollständige Schadensbilanz: Bis zu 40000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland durch Nebenwirkungen von Medikamenten. Zwischen 500000 und einer Million Patienten infizieren sich jährlich im Krankenhaus mit Keimen, Tausende sterben daran. Nach Expertenmeinung ließe sich die Hälfte der Kunstfehler und Komplikationen in der Klinik vermeiden.
Um Fehler zu verhindern, muss sich viel verbessern, auch die Kommunikation. »Der Patient weiß am meisten über sich und seine Krankheit«, sagt Hoeft. »Zudem kann die Standardisierung von Abläufen eine wichtige Hilfe sein.« Patientenschutzorganisationen haben Checklisten erstellt, damit Medikamente nicht verwechselt werden und bei Operationen an alles gedacht wird. »Das wirkt natürlich nur, wenn das Personal geschult wird«, so Hoeft. Das Schwarze-Peter-Prinzip hält Hardy Müller für kontraproduktiv: »Nur die Schuldigen zu suchen und zu feuern, bringt nichts. Wichtiger wäre es, Organisationsmängel zu erkennen, die Fehler wahrscheinlicher machen.«
Fühlen sich Patienten geschädigt, bleiben verschiedene Wege. »Wer einen Behandlungsfehler vermutet, sollte zuerst das Gespräch mit den Ärzten suchen«, rät Hoeft. »Funktioniert das nicht, gibt es Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Auch Krankenkassen bieten Hilfe an. Der direkte Weg zu Anwalt und Gericht ist selten zu empfehlen. Meist verschärft es die Situation und bringt Patienten in die schwierige Lage, Fehler nachweisen zu müssen.«
Dass die Gefahr für Patienten unterschätzt wird, zeigt die Antwort auf eine Aktuelle Anfrage der Grünen im Bundestag im Frühjahr 2012: Annette Widmann-Mauz (CDU), immerhin Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, führte darin Daten des Statistischen Bundesamtes auf, wonach im Jahr 2010 etwa 1700 Menschen im Krankenhaus an Behandlungsfehlern starben – und lag damit um den Faktor zehn unter den seit Jahren kursierenden seriösen Schätzungen. »Wir müssen ehrlich sein«, sagt Hardy Müller. »Patientenrechte erfordern Investitionen. Es kostet Geld, Zeit und Mühe, Patienten ordentlich zu informieren und Fehlern im Krankenhaus vorzubeugen.«
Wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich im Krankenhaus zu Schaden kommen, ist aufgrund der schlechten Dokumentation ungewiss. Studien aus anderen Ländern zeigen, dass drei bis vier Prozent der Patienten in der Klinik betroffen sind. Bezogen auf 17 Millionen Behandlungen, die
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