Heimat Mars: Roman (German Edition)
fest.
»Stimmt alles mit Ihnen?«, fragte er.
Ich nickte. »Was ist mit Charles?«
»Ich glaube, er ist bis zum Äußersten gegangen«, erwiderte Leander. »Wir werden sehen …«
Die ersten neun Stunden des ersten Tages im Neuen System verschlief ich in meinem Zimmer. Ich wachte auf, als sich Hergesheimer, Leander, Abdi und Wachsler an meiner Tür meldeten. Leander hatte sich schon Sorgen gemacht.
»Geht es Ihnen schon besser?«, fragte er.
»Ganz gut«, antwortete ich. Ich fühlte mich, als könnte ich weitere hundert Jahre schlafen, aber zumindest hatte ich alle fünf Sinne beisammen.
Wachslers Ingenieure hatten eine transparente Kuppel auf der Oberfläche errichtet und eine Plattform gebaut, auf der wir entlanggehen konnten. Ich wurde an die Spitze der ersten Gruppe von fünfzig Menschen gedrängt. Anscheinend erwartete man von mir immer noch, dass ich den Leithammel machte. In mehreren, dicht gedrängten Gruppen fuhren wir mit dem Fahrstuhl zum zentralen Notausgang, stiegen zur neuen Luftschleuse empor und traten unter einen neuen Himmel.
Leander schob Charles in einem Rollstuhl hinaus, eine Schwadron medizinischer Roboter überwachte ihn. Ich hielt Charles’ Hand, als wir uns unter der gewölbten, kristallklaren Kuppel versammelten, aber er reagierte nur mit einem leichten Händedruck.
Die neue Sonne wirkte nur wenig größer als die alte, obwohl die neue Umlaufbahn des Mars achtzig Millionen Kilometer näher an dem Zentralgestirn lag. Im Osten verbreitete sich Zwielicht. Die Scheibe verschwand hinter dem Horizont. Ihre perlenartig strahlende, jugendliche Corona glänzte auf und verschwand dann ebenfalls. Mit dem Einbruch der Nacht tauchte ein anderer Glorienschein am Himmel auf.
Es brauchte seine Zeit, bis sich unsere Augen anpassten. Es vergingen Minuten, bis wir die Tiefe der Farben, die Verheißung dieses neuen Sonnengartens erkennen konnten. Um uns herum blühten Nebelblumen in Rosa, Violett und tiefem Lila, dazwischen gab es zarte Streifen in frühlingshaftem Grün und Löwenzahngelb. Und mittendrin zeichneten sich die verschleierten Gesichter ganz junger Sterne ab.
Ich kniete mich neben Charles’ Rollstuhl hin und griff nach seiner Hand. Er drehte sich zu mir und sah mich an. Irgend etwas in seinen Augen und in seiner Miene gab mir ein wenig Hoffnung. Als ich mit meinen Fingern über sein Gesicht strich, zuckte er zurück, seine Wangenmuskeln verkrampften sich. Dann entspannte er sich.
»Weißt du, was um dich herum vorgeht, Charles?«, fragte ich ihn.
»Wir richten uns hier ein«, flüsterte er, seine Augen wanderten umher.
»Du hast uns hierher gebracht«, sagte ich. »Und egal, wie man das beurteilen mag: Zumindest sind wir, glaube ich, in Sicherheit. Also muss es ein richtiger Schritt gewesen sein.«
»Mm, hmmm«, murmelte er.
»Wir blicken auf das Neue System. Es ist Nacht. Wir sehen die Sterne. Sie sind wunderschön.«
»Gut.«
»Verstehst du?«
»Ja«, sagte er und nickte. »Nur allzuviel.«
Auf die Bewegung folgte Ruhe. Eine Ruhepause, in der sich die noch benommenen Marsianer die neue Situation klarzumachen suchten, sich den neuen Gegebenheiten anpassten und sich von der Strapaze erholten. Stille schien den Mars wie seine Bewohner einzuhüllen.
Über dem Mars gingen keine Monde mehr auf.
Die Bedrohung durch die Heuschrecken verblasste von Tag zu Tag mehr. Maschine nach Maschine wanderte in unser Abwehrarsenal und wurde dort zerstört und verschrottet. Andere Maschinen gaben ihren Geist auf dem kalten, trockenen Sand einfach auf, sie wurden hier sowieso nicht mehr gebraucht.
Da Many Hills verschwunden war und Ti Sandra und ein Großteil der Abgeordneten tot waren, gab es auch keine Regierung und keine Republik mehr. Die größeren Siedlungen wurden deshalb ganz von selbst zu Mittelpunkten des gesellschaftlichen und politischen Lebens auf dem Mars. Die Marsianer sprachen vage davon, zur Normalität zurückzukehren, aber das instinktive soziale Muster bestand aus Familie, Siedlung und Bindender Gruppe. Eine andere Struktur hatte sich noch gar nicht verankern können.
Anfangs hatten Millionen von Marsianern Schwierigkeiten, überhaupt zu begreifen, was ihnen zugestoßen war. Sie konnten sich eine so gewaltige Macht, eine so mächtige Verschwörung, die es fertigbrachte, den Planeten aus dem Umkreis der alten Sonne zu reißen, gar nicht vorstellen. Als die Wirklichkeit nach und nach hereindrang – durch Nachrichten aus dem externen Netz, die in den kleineren
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