Heimat Mars: Roman (German Edition)
Hirnrinde reichten und ihre Ströme in die jeweiligen Hauptkanäle meines Hirns leiteten.
»Was passiert, wenn sich das hier löst?«, fragte ich und tippte mit der Fingerspitze gegen den Anschluss.
»Nichts. Die Verbindungen lösen sich auf. Ist absolut sicher. Steinalte Technik.«
»Und wenn ein Virus drin ist, mit dem Alice nicht klarkommt?«
»Sie kann alles in der Simulation umprogrammieren. In solch einem Fall verbringst du lediglich ein paar Sekunden mit Alice, während sie alles abklärt.«
Stimmt übrigens, sagte Alice in meinem Kopf.
»Oha!«, sagte ich aufgeregt. Natürlich hatte ich mit Alice schon LitVids erlebt, aber eine direkte Verbindung vermittelte eine ganz andere Art von Empfindung.
Versuche, mit mir zu reden, ohne dass du die Lippen bewegst oder ein Geräusch machst.
»Ist es so …« Ist es so richtig?
Sehr gut. Entspann dich.
Findest du so etwas in Ordnung?
Meine ganze Existenz ähnelt einer Simulation, Casseia!
Ich hab meiner Mutter mitgeteilt, dass wir so was vorhaben. Ich weiß nicht, was sie davon halten wird.
Ich sah immer noch mit meinen eigenen Augen. Orianna hatte ihren Anschluss befestigt und ihre Augen geschlossen. Ein Muskel in ihrer Wange zitterte.
»Es kann losgehen«, sagte sie laut.
Die Simulation wird in drei Sekunden beginnen.
Ich schloss die Augen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, auch meine Ohren, meine Finger, meinen Körper zu schließen.
Ein Urheber-Logo tauchte auf, drei parallel verlaufende rote Messerschnitte vor schwarzem Hintergrund. Für welchen Künstler oder welches Unternehmen das Logo stand, wusste ich nicht. Danach völlige Dunkelheit.
Als ich meine Augen wieder aufmachte, war ich mit einem neuen Satz Erinnerungen ausgestattet. In medias res: Mit den Erinnerungen kamen auch neue Überlegungen, Sorgen und Pflichten ins Spiel. Ich wusste, dass ich bestimmte Dinge erledigen musste.
Es ging so unmerklich vor sich, dass ich die Veränderung kaum spürte.
Ich wurde zu Budhara, Tochter der Familie Sa’ud aus der Wahabitisch-Arabischen Allianz, Erbin eines alten Vermögens, das auf Bodenschätze der Erde gegründet war. Irgendwie war mir klar, dass Budhara nie gelebt hatte (schließlich war die Handlung fiktiv), aber das änderte nichts. Ihre Welt war real, realer als meine eigene, dafür sorgte eine Intensität, wie sie nur durch die Kunst der Übertreibung erreicht werden kann. Mein Eintritt in ihr Leben vollzog sich in einer Zeit, die vor fünfzig Jahren spielte. Mit gleichbleibender Spannung durchlebte ich sieben wirklichkeitsechte Episoden mit Budhara, die ihr Ende auf dem Sterbebett der Protagonistin, zehn Jahre in der Zukunft, fanden.
Intrigen kamen darin ebenso vor wie doppeltes Spiel, Verrat und Sex (allerdings wurde alles nur angedeutet und war nicht sonderlich informativ). Außerdem wurde das Leben der letzten Wahabiten in einer Welt voller Ungläubiger sehr detailliert dargestellt. Budhara war keine Ungläubige, aber auch keine Konformistin. Ihr Leben war nicht leicht. Jedenfalls empfand ich es als nicht leicht. Gelegentlich ging es ihr so schlecht, dass mich einzig und allein der Gedanke an das unvermeidliche Ende tröstete.
Ihr Tod war in seiner Brutalität erschütternd. Gepeinigt von Minderwertigkeitskomplexen, sah Budharas Geliebter plötzlich rot und erwürgte sie. Allerdings vermittelte mir ihr Tod keine neuen Erfahrungen, ebensowenig wie ihr Liebesleben. Mein Körper wusste, dass er nicht tot war, wie er ja auch gewusst hatte, dass er sich nicht wirklich mit einem anderen Körper vereinigte.
Danach trieb mein Geist in einem mächtigen grauen Endraum umher, und ich spürte, dass auch Orianna hier war. »Du kannst in jede Person schlüpfen, die du gesehen hast«, sagte sie. »Bis zu vier Personen pro Sitzung, wenn sie ein Denker steuert.«
»Wie lange hat die Simulation gedauert?«, fragte ich.
»Ziemlich genau eine Stunde.«
Es war mir viel länger vorgekommen, wie lange, konnte ich nicht abschätzen. Und jetzt fiel mir auf, dass Orianna und ich einander in der Simulation gar nicht begegnet waren, und ich sprach den einzigen Gedanken, der mich in diesem grauen Raum beschäftigte, auch aus: »Ich dachte, wir würden uns in der Simulation miteinander verbinden.«
»Das haben wir doch auch. Ich war dein letzter Mann.«
»Oh.« Mir schoss das Blut in den Kopf. Sie hatte das Geschlecht getauscht. Sie hatte mich erkannt. Das fand ich sehr beunruhigend. Es stellte so viele meiner grundsätzlichen
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