Heimat Mars: Roman (German Edition)
so weitgereister, hochgebildeter Mann, eine Persönlichkeit von solchem Gewicht, und dann so etwas!
Eine Freundin hat mir mal gesagt, die Marsianer bereiteten ihre Kinder nicht auf die wesentlichen Dinge des Lebens vor: auf die erste Verliebtheit, Beziehungen, Liebe. Statt dessen vertraue man auf dem Mars darauf, dass jeder schon irgendwie seine eigenen Erfahrungen machen wird. Aber das kann klappen oder auch schiefgehen. Und meistens geht es schief.
Auf der Erde würde man Bithras in eine Verhaltenstherapie schicken. Dort müsste er sich erst einmal in Simulationen bewähren, bis sich in seinem Kopf einiges geklärt und er seine sozialen Kompetenzen erweitert hätte. Warum muss uns die Tatsache, dass wir die Individualität so hochhalten, daran hindern, unsere Fehler zu korrigieren?
Ich verbringe einen Großteil meiner Zeit mit einer jungen Frau von der Erde. Sie ist klug und witzig und im Vergleich zu mir tausend Jahre alt – obwohl sie erst siebzehn ist (Erdenjahre). An ihrem achtzehnten Geburtstag werde ich mit ihr zusammen eine Simulation mitmachen. Und die weise alte Erde durch die ihr eigene Fantasy entdecken. Ich weiß nicht genau, um was es in dieser Simulation geht, aber ich vermute, dass mir nicht ganz wohl dabei sein wird. Die junge Frau denkt sich kaum was dabei, aber ich habe Angst davor. Angst vor den Erdenbürgern. Vielleicht bist du schockiert, wenn du das liest, aber glaub nur nicht, dass ich weniger schockiert bin, wenn ich’s mitmache. Ich hab mich selbst immer für stabil, für unerschütterlich gehalten, aber meine Arglosigkeit – meine Unwissenheit – ist einfach grässlich.
Und Alice hat sogar noch vorgeschlagen, dass ich so etwas mal ausprobiere. Ich hoffe, das rechtfertigt es in deinen Augen ein bisschen. Falls nicht, dann lass dir mit Oriannas Worten (Orianna heißt die junge Frau von der Erde) gesagt sein: Jetzt bin ich doch kein Kotelett mehr!
Den Brief schickte ich verschlüsselt an unsere Familie. Und ehe Mutter überhaupt die Möglichkeit zu einer Antwort hatte, tauchten Orianna und ich in die Fantasy-Simulation ein, die Orianna aufs Schiff geschmuggelt hatte. Es war an Oriannas achtzehntem Geburtstag, zwei Tage, ehe wir von der Tuamotu in eine Raumfähre zur Erde umstiegen.
»Besser spät als nie«, sagte Orianna, als wir unsere Koms auf einen Privatkanal einstellten. Wir waren mit dem Breitband des Schiffes miteinander und mit Alice verbunden. Alice war nicht nur bereit, sondern ganz wild darauf, die Simulation durchzuführen.
»Du hast mir noch gar nicht gesagt, um was es überhaupt geht.«
»Es ist ein Roman, in dem vierzig Personen vorkommen.«
»Ein Text?«
»Roman nennt man das deshalb, weil die Simulation eine Handlung hat und nicht nur aus einer Szenerie besteht. Du bist Teil der Handlung. Du kannst in die unterschiedlichsten Personen schlüpfen, aber die Person ist der Handlungsträger. Wenn du in eine Person geschlüpft bist, denkst du nicht mehr so, wie du selbst denken würdest. Aber du beobachtest. Anders ausgedrückt: Ein Teil von dir weiß immer noch, dass du du selbst bist. Es ist keine lebensechte Simulation.«
»Oh.«
»Du kannst auch jederzeit aussteigen und in der Handlung weiterspringen.«
»Hast du diese Simulation schon mal gemacht?«
»Nein«, antwortete Orianna. »Deshalb wollte ich sie ja auch nicht nur über Kom laufen lassen. Alice sorgt für größere Sicherheit und bessere Details. Falls ein Virus drin steckt, kann sie uns vorsichtig rausholen, anstatt die Verbindung einfach abzubrechen. So ein Abbruch führt bei mir immer zu Kopfschmerzen.«
Es klang schlimmer und schlimmer. Ich überlegte ernsthaft, ob ich nicht einen Rückzieher machen sollte. Aber als ich Orianna ansah, wie sie mit glänzenden Augen eifrig die Nano-Stecker anschloss, schämte ich mich plötzlich. Wenn sie es konnte, dann konnte ich es auch.
»Du wirst schneller eintauchen als ich«, sagte sie und gab mir meinen Anschluss. »Ehe mein Anschluss funktioniert, muss ich erst meine Verstärkungen deaktivieren und die verbindenden Links einrichten.«
Ich brachte den Anschluss an meiner Schläfe an. Die Zwinge spreizte sich einige Zentimeter, presste sich fest an meine Haut und wand sich, bis sie so anlag, dass sie ihr eigenes Gewicht abstützen konnte. Die Härchen auf meinem Arm kitzelten. Es war so ähnlich wie bei Vorbereitungen für eine größere Therapie. Etwas kitzelte auch an meiner Schläfe: die Nano-Verbindungen, die durch die Haut und den Schädel bis zur
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