Heimat
am Stadtrand. Den Großvater hat Mimi als despotisch in Erinnerung, in jedem Fall war es gedrängt mit den Eltern und der Schwester in zwei Zimmern. Aber das war es nicht allein. Auf der Dorfschule in Spandau war Mimi die einzige ihrer Klasse, die später Abitur machte, und die einzige, die gesagt hat: »Oh Gott, hier will ich nicht bleiben, es ist mir alles so Kleinklein.« Und so findet sie doch eine ganz gute Erklärung, wie es anfing mit dem Weltengebummel: »Ich wollte wirklich von Zuhause weg, weil ich aus diesem kleinen Spandau rauswollte, das war sicherlich eine Flucht. Aber danach hat es mir einfach gefallen - überall.«
Sie wollte immer mehr als Urlaub und Tourismusprogramm. Sie wollte eine Aufgabe, um mit den Leuten im Land zusammenzuarbeiten »und zu merken, wie die ticken und wie du tickst und wie du dich spiegeln kannst.« Der fremde Spiegel zeigt dich anders, das ist ihre Überzeugung. »Eigentlich bin ich ja ein ängstlicher Mensch«, erzählt sie. »Aber das bin ich nur hier.« In ihrer Wohnung in Deutschland
sichern zwei Schließsysteme und zwei riesige Stahlbolzen die Eingangstür. Doch in Peru reiste sie ganz selbstverständlich allein durchs Land, lernte eine Familie kennen und wohnte gleich eine Woche bei ihr. »Das war toll«, sagt sie mit großer Genugtuung. »In der fremden Umgebung bin ich anders, und das finde ich spannend.«
Von Heimweh spricht Mimi gar nicht, bei den meisten ihrer Auslandsaufenthalte wäre sie gerne länger geblieben, wenn man sie denn gelassen hätte. Und auch Heimat ist ein Konzept, das sie erstmal ziemlich pauschal abfertigt: »Jemand sagte mal: ‚Man hat die Heimat immer bei sich.’ Und das stimmt für mich total. Ich nehme mich ja immer mit. Überall, wo ich hinkomme, mache ich was draus.« Also kein Ort, kein Bezugspunkt. Ich bin meine Heimat, fertig.
Hätte sie geheiratet, hätte sie Kinder, dann wäre ihr Leben vielleicht anders verlaufen. Vielleicht hätte es doch Ruhe und Rast und Verweilen gegeben auf dieser weiten Reise. Vielleicht war es auch umgekehrt, das Verweilen zu kurz, um sich zu binden. Die Sorge, womöglich einmal in fremder Erde begraben zu liegen, treibt Mimi jedenfalls nicht um. »Das ist mir echt schnurz«, versichert sie. »In fremder Erde bestattet? Da muss ich immer kichern.« Sie werde bestimmt nicht von innen gegen den Sargdeckel hämmern, wenn es einmal so weit sei. Vorbei ist vorbei.
Später allerdings in der langen Erzählung aus ihrem Leben im Zickzack über den Globus taucht die Heimat noch einmal auf, an unerwarteter Stelle. Mimi erzählt die Geschichte, wie sie ihre Straße herunterging, ein Jahr war sie nicht mehr dort gewesen, und nun war plötzlich alles ganz anders: »Wo war mein Fotoladen? Mein Fotoladen war weg. Meine kleine Suppenkneipe war weg. Das hat mir wehgetan, das war meins.« Zum Glück war die Post noch da. Der Postbeamte half ihr beim Einpacken ihres Pakets, so wie immer, und plauderte mit ihr übers Wetter. »Es war das Gefühl: Hier bin ich Zuhause«, sagt Mimi.
Die Straße liegt hinter der Universität in Peking.
Was es damit auf sich hat, mit ihr und China, und wie es dazu kam, auch das kann Mimi nicht wirklich erklären. Die komplizierte Sprache und die noch kompliziertere Schrift sind trotz aller Kurse
noch immer ein Problem, bei Ausflügen aufs Land ist sie sich in kleinen Restaurants immer noch nicht ganz sicher, ob sie sich nicht doch kandierte Kakerlaken aufgetischt bekommen wird oder Hundefleisch, weil sie weder den örtlichen Dialekt versteht, noch die handgeschriebene Speisekarte lesen kann. Mimi versucht auch, kritische Distanz zu wahren. »Ich sehe das Negative, ich sehe, wie sie ihre Umwelt kaputt machen, ich kriege die Wanderarbeiter mit, ich sehe, wie sich die jungen Leute entfernen von ihrer Kultur und wie das Geld regiert.« Aber das alles stört nicht die tief empfundene Bindung. Sie hat sich in Peking mit einer Familie angefreundet und freut sich, wie die Kinder groß werden. Ausgerechnet in Kambodscha hat ein junger Chinese sie zur Wahlmutter erkoren, den will sie nun in der Volksrepublik besuchen. »Wenn du dazu gehörst, gehörst du dazu«, sagt Mimi. Und so fühlt sie sich. »Ich sage immer: Ich bin eine wiedergeborene chinesische Prinzessin.«
Sie hat darüber nachgedacht, ihr Geld flüssig zu machen und zu gehen. Vor allem seit sie wieder aus Kambodscha zurück ist, zwischen ihren ach so vertrauten Beamten-Kollegen, die pünktlich um fünf Uhr den Rechner herunterfahren, um
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