Heimat
beides tief menschlich ist: das Bleiben und das Gehen. Die Balance der beiden Kräfte sortiert sich in jedem anders, aber vorhanden sind sie immer beide. Joisten spricht vom »unermüdlichen Pendeln zwischen Wohnen und Gehen«, das den Menschen ausmache. Der Mensch habe sowohl eine »heimhafte als auch eine weghafte Seite«, die in unlösbarem Konflikt miteinander stünden. Das »Wohnende« steht dabei für das Bedürfnis nach Sicherheit und Bindung, Geborgenheit und Ruhe. Diese aber gebe es nie in Reinform. Auch mitten in der Geborgenheit ist sich jeder bewusst, dass sie woanders fehlen könnte. Das prasselnde Kaminfeuer ist dann besonders wohlig, wenn es draußen kalt ist - genau genommen ist das die Voraussetzung, dass es überhaupt angezündet wird. Andererseits bedeutet der Blick nach draußen, dass der Keim der Rastlosigkeit in jedem schlummert. »Der Mensch als der Gehende ist derjenige, der sich immer neu ausrichtet«, schreibt Joisten. Statisch kann er nicht sein, er muss sich verändern. 46 Ruhte er völlig in sich, hätte er vollkommenes Vertrauen in seine Mitmenschen - der Mensch käme zum Stillstand. »Es ist daher für jeden Menschen notwendig, im übertragenen (und letztlich auch
im konkreten Sinne) nach draußen zu gehen und fremde Eindrücke zu sammeln.« 47 Heimat finde der Mensch zwischen diesen unversöhnlichen Polen dann, wenn er ständig neu und lebenslang die Mitte zwischen beiden Wesensseiten sucht.
Der Philosoph Otto Friedrich Bollnow, schon Anfang der 80er-Jahre in großer Sorge über die Mobilität des modernen Menschen, über dessen Heimat- und Orientierungslosigkeit, tröstete sich ebenfalls mit dem Bild der austarierten Gegensätze. Heimat sei zwar sichere Behausung, dürfe aber nicht Gefängnis sein. »In dieser Spannung zwischen Enge und Weite, zwischen ruhigem Verweilen im schützenden Bereich der Heimat und mutigem Ausgreifen in die Ferne, zwischen Beharren in der Tradition und Willen zum Fortschritt, bald mehr zur einen, bald mehr zur anderen Seite sich neigend, verläuft das menschliche Leben.« 48
Seit dieser sehr weisen, sehr getragenen Feststellung des Philosophen hat das Lebenstempo allerdings noch einmal deutlich zugelegt. Globalisierung ist erst in den 30 Jahren seither das bestimmende Thema geworden. Und wenn Globalisierung Grenzenlosigkeit bedeutet, dann ist das für das Konzept Heimat, das von Begrenzung lebt, eigentlich tödlich. Die Balance zwischen Gehen und Bleiben scheint gekippt. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht von einem »gesprengten Behälter«: »Das Schicksal der heimatlich definierten Menschenart erfüllt sich jedoch erst in der modernen Welt, die durch die anti-agrarische Revolution zur Verstädterung und Mobilmachung der Lebensformen führt. Mit dem Ende der sesshaften Zivilisationen beginnt für das Konzept Heimat ein Weltalter der permanenten Krise.« 49
Bei vielen stiftet dieser Umbruch Unbehagen. Einerseits. Andererseits nehmen wir alle teil. Die weltumspannende Vernetzung, das zunehmend enge wirtschaftliche Gefüge, die Schwindel erregende Zunahme von Mobilität und die kulturelle Verflechtung in einem globalen System international einheitlicher Marken, Produkte und Internetplattformen sind für fast jeden zur alltäglichen Größe geworden.
Die Zahl der registrierten internationalen Reisen weltweit ist von rund 25 Millionen 1950 auf gut 760 Millionen im Jahr 2004 in die Höhe geschossen; selbst seit 1980 weist die Statistik noch eine
Verdreifachung aus. Die Deutschen haben daran den größten Anteil. 2004 gaben sie 71 Milliarden US-Dollar für Auslandsreisen aus - mehr als jede andere Nation einschließlich USA. 50
Die Zahl der Migranten weltweit hat sich in nur 15 Jahren bis 2005 von 155 auf 190 Millionen erhöht. 51 Und auch in diesem weltweiten Strom sind die Deutschen mitten drin. Die Zahl der deutschen Auswanderer stieg von 1992 bis 2008 deutlich: von 105.000 auf 175.000 pro Jahr. Und viele, viele andere denken über einen solchen Aufbruch nach - ein Phänomen, das seit Jahren TV-Auswanderer- und Rückwandererserien prächtige Quoten verschafft. 52 Der Studienaufenthalt in Canberra, die Versetzung für Daimler-Benz nach Kapstadt, mal ein paar Monate als Bauarbeiter in die Russische Föderation: Das ist für Hunderttausende Realität.
Dabei ist für viele dieser Menschen nicht unbedingt die philosophische Betrachtung ausschlaggebend, nicht die Suche des Gehenden in den Tiefen der eigenen Seele, nicht immer Abenteuer oder Lust am
Weitere Kostenlose Bücher