Heimat
Fremden, sondern die Ökonomie. Nach Schätzungen der International Labor Organisation (ILO) zählen bei jedem zweiten Auswanderer weltweit wirtschaftliche Gründe, 53 und die Bundesbürger sind dabei keine Ausnahme. Die deutsche Dauerkrise am Arbeitsmarkt treibt viele dazu, ihr Glück im Ausland zu suchen.
4. »Ich bin hier Gastarbeiter«: Von der Kälte im Fremden
Die Schweiz. Die Schweiz? Die Schweiz. Na klar, warum nicht? Als Peter Schulz vor acht Jahren von Süddeutschland zu den Eidgenossen übersiedelte, war es ein Umzug voller Chancen und Möglichkeiten. »Der Job hat mich gefunden, nicht ich ihn«, sagt Schulz. 54 In Deutschland hatte er eine unbefristete Stelle als Mitarbeiter eines interkulturellen Forschungsinstituts, und er glaubt, dass er da bis zur Rente hätte bleiben und vor sich hinforschen können. »Der Job war ok.« Es hört sich an nach grau und abgestanden. Die Stelle in der Schweiz dagegen war ein Aufstieg. Studienleiter bei einem Bildungsträger, die Chance, etwas Neues zu tun, eine
Leitungsfunktion, eine neue Branche. »Es war interessant, es war reizvoll, und zufällig war es auch Ausland«, sagt er. »Im Ausland zu leben, fand ich erstmal gut, das war kein Hindernis.«
Man muss vielleicht wissen, dass Peter Schulz Soziologie studiert hat. Nicht zufällig, wie er sagt, er ist ein wissbegieriger Mensch. Er hat etwas Analytisches, Systematisches - ein Mann, der einem erklärt, wie man eine Spülmaschine ausräumt (erst unten, damit nicht das Wasser aus den gewölbten Tassenboden auf der oberen Lade die Teller drunter unnötig besprenkelt, was überflüssiges Abtrocknen zur Folge hätte). Aber er hat auch etwas Schalkhaftes, tiefe Lachfalten um die blauen Augen, das eisgraue Haar jungenhaft kurz über einer gebräunten Stirn. Während des Studiums und der Promotion hat er insgesamt mehrere Jahre in Südeuropa gelebt. Der Anlass war Feldforschung, aber das war vielleicht nur ein Vorwand, ein Mäntelchen über der Neugierde, der Lust, ins Fremde einzutauchen und sich treiben zu lassen. Dieser Antrieb ist bis heute nicht verloren. Wenn heute einer käme und ihn für ein Entwicklungsprojekt in Vietnam anheuerte, er würde gehen, sagt er, sofort. Nur die Schweiz, die ist dann doch zu exotisch.
Peter Schulz ist nach acht Jahren an seine Grenzen gestoßen, die Grenzen dessen, was er an Fremdheit aushalten will. Die Schweiz gilt vielen in Deutschland nur halb als Ausland, irgendwie ist doch alles wie bei uns, nur mit Bergen und einem lustigen Akzent. Peter kann darüber nicht mehr schmunzeln. In Korea, sagt er, da sieht man die kulturelle Differenz sofort, die Sprache ist anders, das Aussehen, die Kleidung. In der Schweiz ist alles unter der Oberfläche, die Deutschen brechen verborgene Tabus - wie der Besitzer des fetten Geländewagens, der beim Rückwärtsfahren den Zaun vom Nachbarn ummäht. Da war was? Oh. Tja.
»So sind die Alltagskonflikte«, sagt Peter. »Böser Deutscher kommt, platzt rein, alle sind stinkig, rümpfen die Nase, der Deutsche hat es gar nicht gemerkt.« Der Wissenschaftler in ihm kann das auch gut erklären: »Diese Gesellschaft hat feinere Regeln als unsere und sie hat keine Feed-back-Systeme.« Die Deutschen in der Schweiz reflektierten das eigene Verhalten zu wenig und seien deshalb extrem unbeliebt. Dann schlüpft Peter wieder in die eigene
Haut und macht seinem Frust Luft. »Die lassen einen auflaufen. Die erzählen es zehn anderen Leuten, aber nicht einem selbst.«
In der Öffentlichkeit, im Restaurant, im Zug bleibt er inzwischen stumm. Er meint das wörtlich. »Ich rede nicht mehr. Ich halte den Mund, so lange ich kann.« Denn schon die kleinste Äußerung, das »Bitte«, wenn er dem Schaffner den Fahrschein hinstreckt, enttarnt ihn als Deutschen. Der Schaffner schaltet sofort um auf hochdeutsch- und das signalisiert für Peter: Abgrenzung - du gehörst nicht dazu.
Von seiner ersten Stelle in der Schweiz ist er gewechselt an eine Hochschule. Noch ein Aufstieg. Mit Ende 40 ist Peter Schulz das, was er immer sein wollte: Professor. Er unterrichtet, leitet eine Abteilung, führt Mitarbeiter. Seine Frau hat auch eine gute Stelle gefunden, sie unterrichtet ebenfalls. Die ewige Pendelei ist vorbei, die für das Paar über mehr als 20 Jahre mit Auslandsaufenthalten und Jobsuche und Jobwechsel immer wieder zur Zerreißprobe wurde. Alles ist gut. Eigentlich. Und doch wirken Peter Schulz und seine Frau Marina entnervt.
»Wir Deutsche sind in der Deutschschweiz
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