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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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sich um Haus und Hof zu kümmern. »Es macht mich wahnsinnig«, sagt sie aus tiefster Überzeugung. Sie hat sich in Kambodscha einen Arbeitsstil angewöhnt, der die deutsche Amtsstube offenbar sprengt. Wenn sie mit einem Problem nicht weiter kommt, geht sie gerne mal ein, zwei Stunden spazieren, danach hat sich alles zurechtgerüttelt und sie kann den Vermerk einfach runter schreiben. Neulich steckte sie in so einer mentalen Sackgasse, da hat sie sich im Internet einen chinesischen Popsender gesucht und erstmal angefangen, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Dann ging es wieder. Termine und Fristen hält sie trotzdem ein, dazu sitzen die preußischen Tugenden zu tief, kein Mensch hat an ihrer Arbeit wirklich etwas auszusetzen. Und doch fühlt sie sich fremd.

    Noch ist es allerdings nicht so weit mit dem nächsten Aufbruch, ganz wurzellos ist sie eben doch nicht. Ihr Vater lebt hochbetagt noch immer in Spandau, und auch ein paar Freunde gibt es noch in Berlin. »Ich werde meinen Vater hier in Würde zu seinem letzten Ruheort bringen, das ist mir ganz wichtig«, sagt Mimi. »Wenn mein Vater nicht mehr ist, wenn alles abgewickelt ist, wenn ich nicht mehr
diese Pflichtaufgabe habe, dann kann ich noch mal überlegen.« Vielleicht wird sie dann selbst alt werden, in einem der Pekinger Parks, beim Sommerpalast, wo sie nachmittags Walzermusik spielen und die alten Leute tanzen, Walzer tanzen oder Foxtrott oder Tango. »Und die sagen: tanz mit - das ist das Schöne in China: Die Alten sind nie allein.«

    Fremde und Heimat - beides ist nur zusammen denkbar. Gäbe es die Fremde nicht, wäre die Heimat unbegrenzt und damit überall und nirgends, es gäbe also auch sie nicht. So erklärt sich auch, dass die Deutschen sich als Reiseweltmeister profilieren, wenn sie gerade nicht über Heimatverbundenheit philosophieren oder auf dem Sofa in der süßen Wehmut eines Knopfakkordeons aus dem Musikantenstadl schwelgen.

    Der Soziologe Gunther Gebhardt sagt es zwar etwas komplizierter als Mimi, bestätigt aber ihren Befund: »Man muss sich erst von der ‚Mutter’, der Heimat lösen, um diese aufschließen, erschließen zu können. Im Fremden lernt man das Eigene kennen, wird das Eigene sichtbar und kann so auf die Stufe der Reflexivität erhoben werden.« 41 Auch die Psychologin Beate Mitzscherlich verweist auf den räumlichen Abstand, das Draufschauen aus der Fremde, das die Heimat begrenzt. »Das Besondere der Heimat, das, was typisch für ‚uns’ ist, wird häufig dann deutlich, wenn man sie verlässt und sich mit dem Fremden, Unbekannten konfrontiert«, schreibt sie. 42 Voraussetzung für das Hinausgehen von Kindern sei das Urvertrauen, dass die Heimat bei der Rückkehr unverändert sei. Dieses Urvertrauen allerdings wird nur allzu leicht angekratzt, denn die Heimat verändert sich während der Abwesenheit, und sei es nur durch den neuen Blick des Rückkehrers.

    Nach dieser Lesart bleibt auch der Weggehende immer auf die Heimat bezogen. »Das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh«, befindet der Schriftsteller Bernhard Schlink in seinem Essay über »Heimat als Utopie«. 43 Der Literaturwissenschaftler Bernd Hüppauf sieht es ganz ähnlich: »Heimat, haben Ethnologen ein wenig überspitzend
gesagt, ist ein Begehren der Nomaden. Wer sie nicht hat, empfindet diesen Ort in der Seele als Leere und entwickelt eine Sehnsucht nach dem Abwesenden.« 44

    Schon die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies kann man als Aufbruch in die Fremde interpretieren. Zwar ist der auf den ersten Blick alles andere als freiwillig, es ist der erste dramatische Heimatverlust der Geschichte. Doch beginnt der ganze Ärger erst, als sich die beiden über das enge Regelwerk in der »Heimat« hinweg setzen. Insofern ist es eben doch auch ein Ausbruch - allerdings mit unerwartet weit reichenden Konsequenzen. Beim Auszug aus Ägypten ist die Sache eindeutiger: Das Volk Israel flieht aus der Sklaverei in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. »Die jüdisch-christliche Tradition lebt in dieser Spannung zwischen Aufbrechen aus der Heimat und der Suche nach dem gelobten Land, nach einem Ort der Beheimatung«, schreibt der frühere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und ehrenamtliche Kirchenvertreter Reinhard Höppner. »Wir leben in diesem Raum zwischen alter Heimat und neuer Heimat. Zwischen Tradition und Aufbruch. Zwischen Sehnsucht nach Vertrautem und der Hoffnung auf ganz Neues.« 45

    Die Philosophin Karen Joisten lenkt den Blick darauf, dass

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