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Heimaturlaub

Heimaturlaub

Titel: Heimaturlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ihrer schönsten Seite. Über den Kuppeln und Türmen, den Säulen und Treppen, den Denkmälern und Prachtstraßen lag eine hohe Schneeschicht, auf der die Sonne spielte, als seien die Kristalle Milliarden winziger Diamanten. Vermummt gingen die Menschen durch die freigeschaufelten Straßen, standen trampelnd und um sich schlagend an den Geschäften – lange Schlangen, die geduldig seit Stunden warteten, bis der Verkäufer im Laden die Viertelpfundmarke der Fettkarte abschnitt. Kinder tummelten mit Schlitten durch den hohen Schnee, und ein Verwundeter, der sein abgeschossenes Bein durch eine Krücke ersetzte, balancierte über den gefrorenen Asphalt einem kleinen Café an der Ecke zu.
    Heinz Wüllner, der im hochgeschlossenen Ulster über den Kurfürstendamm ging und der S-Bahn zustrebte, sah dies alles nicht. Seine Gedanken waren noch ganz von dem Gespräch gefangen, das er vor einer halben Stunde im Propagandaministerium am Wilhelmsplatz mit dem Leiter der Frontpropaganda gehabt hatte. Dort wurde man wieder mit hundertprozentiger Siegeszuversicht taktiert, ohne jedoch die Möglichkeit eines Sieges zu erwähnen. Man sprach vom Glauben, von der Gnade des Schicksals, von der geschichtlichen Sendung, von den Parallelen Friedrichs des Großen … aber das Nötigste, wie man siegen wollte, das verschwieg man, weil man es selber nicht wußte.
    Heinz Wüllner schüttelte im Gehen den Kopf. Glauben! – Der Glaube war eine Stütze, solange man den Erfolg greifen konnte. Der Bibelspruch: ›Du sollst glauben und nicht sehen‹, war auf Kinder zugeschnitten, aber nicht auf Menschen eines Jahrhunderts, die mit wachen, kritischen Augen durch das Leben gingen. Glauben! Dieser billige Glaube an eine völkische Sendung sank im Feuer der Batterien von Stalingrad dahin, verblutete in den Kesseln von Witebsk und Smolensk, blieb in verschlammten Löchern bei Leningrad und im Sand der tripolitanischen Wüste.
    Ja, als man damals auszog, Danzig zu gewinnen, damals glaubte man, daß der Krieg in drei Wochen zu Ende sei. Damals glaubte man auch, daß Europa eine Festung sei. Aber dieser Glaube war gestorben in den Weiten des Ostens und vor der Pforte Asiens.
    Heinz Wüllner zwang sich, diese Gedanken zu verdrängen, denn wohin sie führten, fühlte er, je länger er über den Sinn dieses Krieges nachdachte. Und denken durfte er nicht, denken war in seiner Stellung als Kriegsberichter und Soldat verboten, war strafbar. Doch je mehr er sich quälte, die Gedanken nicht weiterzuspinnen, um so heftiger pochte an sein Gewissen der eine Satz, den er sich schon in Rußland abgewöhnen wollte, jedoch nie konnte: ›Du bist ein bezahlter Lügner für den Untergang.‹
    Inzwischen war er bis zu den Bahnsteigen der S-Bahn gelangt und stieg fast automatisch durch die Tür in ein Abteil der 2. Klasse, öffnete seinen Ulster, um den Temperaturanstieg von einigen Grad unter Null zu einer wohltemperierten Wärme auszugleichen, setzte sich, schabte die mit Schnee verkrusteten Schuhe an dem Gestänge seines Sitzes ab und schob die kleinen Schneebrocken unter den Sitz, wo sie bald zu einer schmutzig-grauen Lache schmolzen.
    Mit lässiger Gebärde entnahm er der Tasche seines Ulsters eine zerknitterte Zeitung, glättete sie auf seinem Schoß und studierte zuerst sein Fachgebiet – den kulturellen Teil.
    Kultur! Wie rein ist doch die Kunst im Vergleich zur Politik! Ein fader Geschmack kam ihm auf die Zunge – hatte man nicht auch die Kunst in die Politik gepreßt? Spielte man nicht auf den Theatern Tendenzstücke gegen die Feindstaaten? Glorifizierte man nicht Wilhelm Tell als das Vorbild eines Revolutionärs? War die Bühne nicht ein Rednerpult politischer Ränke geworden?
    Heinz Wüllner spürte ein fast körperliches Unbehagen. Wie war es möglich, eine Zeitung unvoreingenommen zu lesen, wenn man genau wußte, daß alle Artikel von Staats wegen lanciert waren und unter strengster Zensur standen.
    Vertieft in seine Gedanken, bemerkte Heinz Wüllner nicht, daß an einer Haltestelle ein junges Mädchen in sein Abteil stieg, sich durch die Menge der Stehenden drückte und bis zu seinem Sitz vordrang, wo sie sich an die Rückenlehne festklammerte. Sie schien durch den täglichen Kampf um einen Sitzplatz erschöpft zu sein, denn sie holte aus ihrer Handtasche ein kleines Taschentuch mit einer niedlichen Spitzenborte und trocknete die winzigen Schweißperlen von der Stirn. Dabei blickte sie sich um, ob nicht ein Mann so höflich sein würde, ihr einen Platz

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