Heimaturlaub
›Danke‹ ist nichts abgeschlossen. Ein höflicher Mann stellt sich auch vor … zumal, wenn er wirklich so etwas wie eine akademische Bildung besitzt.«
Das sollte ein neuer Pfeil sein, aber Wüllner erhob sich nur um zwei Zentimeter und sagte schlicht:
»Heinz Wüllner, Schriftleiter im Europaruf – früher sagte man Redakteur, aber das klingt im Großdeutschen Reich zu dekadent-kapitalistisch. Meine Lieblingsbeschäftigung ist die Kunst- und Literaturkritik.«
Hilde Brandes biß sich auf die Lippen. Wieder eine Niederlage! Wieder dieser unverbindliche, superfreundliche Ton mit den Schwingungen des Spotts im Hintergrund.
Der Zug hielt. Neue Menschen, mit Schnee bedeckt und mit frostgeröteten Gesichtern, drängten herein und schüttelten sich den verharschten Schnee von den Schultern der Mäntel.
Wüllner, der an der nächsten Station aussteigen mußte, stand auf und streckte Hilde Brandes die rechte Hand entgegen: »Sind Sie bereit, mit mir einen Frieden einzugehen? Haben wir nicht Krieg genug um uns herum? Sollen wir auch noch im kleinen beschnittenen Privatleben unserer Zeit den Krieg als Dauerzustand einführen? Also, machen Sie endlich ein freundliches Gesicht!«
»Nur wenn Sie nicht mehr so ekelhaft spöttisch sind«, sagte Hilde und nahm die dargereichte Hand mit einem leichten Zögern. Aber Wüllner drückte sie fest und mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Ich war nie spöttisch gegen Sie«, meinte er dabei, »ich würde mir so etwas einem hübschen Mädchen gegenüber niemals erlauben. Es freute mich nur, wie Sie sich tapfer in einer Situation schlugen, die von Beginn an verfahren war. Aber denken wir nicht mehr daran. Seien wir friedlich, und so schön Ihnen auch die wütende Miene stand – viel schöner muß Ihnen ein freundliches, ganz freundliches Lächeln stehen.«
Hilde Brandes versuchte diesen auf einmal ganz netten Mann anzulächeln, aber es mißlang kläglich. Wüllner, der noch immer ihre Hand in der seinen hielt, nickte ihr ermutigend zu und drückte die zarten, schmalen Finger mit dem Onyxring.
»Freundlicher, Fräulein Brandes, viel freundlicher. Oder ist es so schwer, zu mir ein bißchen nett zu sein?«
»Sie sind furchtbar.«
Hilde entzog ihm ihre Hand und errötete wieder bis zu den wirren Locken. Und gerade dieses Erröten war es, was Heinz Wüllner zu einer kühnen Attacke hinriß und in ihm alle Vorsätze zur Seite spülte. Mit einer geradezu vorbildlichen Nonchalance raffte er seinen aufstehenden Ulster zusammen und strich sich mit der Rechten über das Haar:
»Und da wir Frieden geschlossen haben, finde ich einen kleinen Friedensbummel zu einem Café in der Nähe für das Allerrichtigste. Es trifft sich besonders gut – ich muß nämlich hier gleich aussteigen.«
Hilde sah Heinz an. Was sollte man darauf antworten? Auch sie mußte an der kommenden Station raus, und wie sie Wüllner jetzt kannte, würde er keine Ruhe geben, ehe sie einverstanden war.
»Und wie soll ich mein langes Ausbleiben verantworten?« machte sie einen letzten Versuch zur Flucht, während der Zug in den Bahnhof einlief und die Menschen schon zu den Türen drängten.
»Sagen Sie bitte Ihrer Mama, Sie hätten einen Zusammenstoß gehabt und den seelischen Schaden bei einer Tasse Ersatzkaffee oder einer alkoholfreien Orangeade wieder ausbessern müssen. Denn leider erlaubt es unser so reizender Krieg und die hohe Taktik und Politik unserer Führung nicht, Ihnen einen Sherry oder auch nur ein Glas funkelnden Wein zu kredenzen.«
»Ich habe keine Mama mehr«, sagte Hilde leise und blickte dabei zu Boden, »und der Vater starb, als ich sechs Jahre alt war. Ich stehe allein und verdiene mir das Studium durch Privatunterricht.«
»Verzeihen Sie«, sagte Wüllner leise. »Es tut mir leid. Sehr leid … Und nun machen Sie Ihren Mantel zu, denn der Temperatursturz vom überheizten Abteil zu der Straßenkälte ist gefährlich für die Gesundheit.«
Wie ein kleines Mädchen gehorchte Hilde Brandes und knöpfte ihren Mantel bis zum Halse zu, nicht ohne im Inneren diese Fürsorge als ein großes Plus für Heinz Wüllner zu registrieren.
Im gleichen Augenblick hielt die S-Bahn, die breiten Türen schoben sich zur Seite, eine Welle von Kälte und Schnee fuhr den Heraustretenden entgegen. Wüllner zog den Hut tief ins Gesicht und den braunen Seidenschal näher zum Kinn. Dann griff er nach rechts und schob den herunterhängenden linken Arm Hildes unter seinen rechten.
»Es ist besser so, wegen des Glatteises.
Weitere Kostenlose Bücher