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Heimaturlaub

Heimaturlaub

Titel: Heimaturlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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anzubieten.
    Da fiel ihr Blick auf den lesenden Heinz Wüllner.
    Hilde Brandes, so hieß das Mädchen, atmete tief auf. Dieser junge Mann mit den graumelierten Haaren und dem grauen Ulster würde bestimmt seinen Platz für sie räumen.
    Vorsichtig beugte sie sich vor und sah: Er trug keinen Schlips und las eine Zeitung, die zwei Tage alt war. Außerdem kramte er jetzt einen abgeschriebenen Bleistiftstummel aus der Tasche und unterstrich einen Satz der Faustkritik. Schlampig, dachte Hilde, ausgesprochene Junggesellenschlampigkeit. Ungespitzter Bleistift, alte Zeitung, Unhöflichkeit!
    Mit solchen Schlußfolgerungen war sie schnell bei der Hand – als Studentin der Psychologie.
    Sie räusperte sich vernehmlich.
    Aber Heinz war zu weit im Reich der Gedanken, um diesen leisen Hinweis auf seine Person zu vernehmen, geschweige, ihn zu deuten. Er blätterte die Zeitung um, schlug die Politik auf und suchte aus seiner Tasche eine zerknitterte Zigarette, die er mit einem Feuerzeug aus Nickel anzündete.
    Hilde sah die Initialen HW und das Bild eines eingravierten Affen auf dem Feuerzeug.
    Paßt zu ihm, dachte sie und musterte diesen offensichtlich unordentlichen und phlegmatischen jungen Herrn etwas genauer. Er sah soweit ganz nett aus – ein starkes, energisches Kinn, eine feste Nase, ein wenig gebräunt, eine gut gebaute, sportgestählte Figur, eine gepflegte Hand, und was das interessanteste war: Trotz der fünfunddreißig Jahre, die Hilde schätzte, zogen sich durch seine schwarzen Locken eine Menge Silberfäden. Mit einer lässigen Bewegung schlug er jetzt die Beine übereinander, nicht ohne das Hosenbein ein wenig nach oben zu ziehen, und mit einer fast müden Geste richtete er die zusammengerollte Zeitung wieder auf.
    Vor dieser einfachen Geste vergaß die zunehmend empörte Hilde Brandes alle Psychologie. Sie trachtete schon gar nicht mehr danach, einen Sitzplatz zu erobern, es ging ihr jetzt um das Prinzip: Ob auch dieser hartgesottene Fall von Weltverachtung sich ihrem Willen beugen würde! Denn wenn ein Mensch noch so interessiert die Zeitung liest – er merkt es trotzdem, wenn ein anderer neben ihm steht und ihm in die Blätter schaut. Hier war die Nichtbeachtung entweder Frechheit oder ein bemerkenswertes vollkommenes Versunkensein.
    Hilde Brandes wollte gerade schwereres Geschütz auffahren, um dieses Problem mit einem Schlag zu lösen, da kam ihr das Schicksal zuvor. Der Zug, in eine scharfe Kurve fahrend, schleuderte sie zur Seite, und mit einem leisen Schrei saß sie auf dem Schoß des fremden graumelierten Herrn.
    Heinz Wüllner, der gerade seinen eigenen Kriegsbericht studierte und sich immer wieder fragte, woher er den Mut nahm, dem Volk eine solche Verzerrung der Wahrheit zu bieten, sah plötzlich einen Fohlenmantel auf seiner Zeitung und auf seinem Schoß, blickte in zwei erschrockene, tiefblaue Augen, sah unter dem Mantel eine hellgraue Flanellhose hervorlugen und vor seinen Augen ein Gewirr von blonden Locken, die durch einen blauweißen Turban mühsam gebändigt wurden.
    Und während noch das kleine Fräulein verlegen in seine Augen blickte, verzog er den Mund zu einem spöttischen Lächeln und fragte mit einer gewollt lässigen Stimme:
    »Haben Sie es immer so eilig?«
    Hilde, überrumpelt von dieser Frechheit, begann zu stottern und wußte nichts Besseres zu sagen als: »Wieso?«
    »Ich habe ja im allgemeinen nichts gegen Mädchen, die auf meinem Schoß sitzen, vor allem, wenn sie hübsch und jung sind, aber ich bin der Ansicht …«
    Hilde fand ihre Sprache wieder, etwas schnippisch fiel sie ihm ins Wort:
    »Ihre Ansichten sind für mich uninteressant.«
    Dabei sprang sie von Wüllners Schoß auf und versuchte ihre Locken unter dem blau-weißen Turban zu ordnen.
    »Überhaupt gehört es sich nicht, eine wehrlose Frau zu verspotten – noch dazu in der S-Bahn.«
    Wüllner lächelte gemütlich zu ihr hinauf.
    »Können Sie mir sagen, in welchem Kapitel des Knigge das steht?« fragte er und drehte dabei den Bleistift zwischen den Fingern.
    »Für die Grundregeln von Anstand und Takt braucht man kein Lehrbuch«, entgegnete sie mit einem schwingenden Triumph in der Stimme. Jetzt mußte er klein beigeben. Gegen dieses Argument kam er nicht an. Aber Hilde kannte nicht die Frechheit Heinz Wüllners. Bekanntlich sind alle Journalisten mit einer zwar liebenswürdigen, aber um so durchschlagenderen Frechheit begabt, einer Frechheit, die ihnen alle Türen und Tore öffnet und nichts unmöglich erscheinen

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