Heimkehr am Morgen (German Edition)
Krankenhauses in Seattle arbeiten. Es ist eine wundervolle Gelegenheit, besonders jetzt, wo so viele männliche Ärzte in Europa im Krieg sind.«
»Du behandelst keine Patienten mehr?«
Jess reckte das Kinn. »Nein. Nicht mehr.«
»Aber ich dachte …«
»Bei der Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten werden im Augenblick solche Fortschritte gemacht, und da fand ich, ich kann keinen wichtigeren Beitrag leisten als in der Forschung.« Jess verstärkte den Griff um ihr Wasserglas. »Überleg doch bloß mal, was Edward Jenner mit dem Pockenimpfstoff für die Menschheit getan hat oder, oder … Joseph Lister, der herausgefunden hat, dass Phenol Infektionen verhindert. Und William Thomas Green Morton, der als Erster Äther zur Betäubung eingesetzt hat. Jemand musste all diese Dinge entdecken.«
»Na ja … wohl schon. Ich dachte nur, du würdest dich mehr für die praktische Medizin interessieren.«
Unwillkürlich überlief Jessica ein Schauer. »So war es auch. Früher.«
»Aber du hast Eddie behandelt.«
Jess zuckte die Schultern. Das war nur ein Reflex gewesen, der sich irgendwann legen würde. »Es war ein Notfall. Ich musste eingreifen.«
»Als du nach deiner Ausbildung nicht zurückgekommen bist, dachte ich eigentlich, du würdest in New York bleiben. Na ja,vermutlich wird sogar Seattle besser sein als das öde alte Powell Springs. Weißt du, hier gibt es erst seit ein paar Monaten elektrischen Strom, und kaum jemand hat fließend Wasser. Ich glaube, Daddy war der Erste, der beides hatte.«
Jess blickte auf zu Amy. »Und dir gefällt es bei Mrs. Donaldson?«
»Cole hält sie für eine Wichtigtuerin, aber sie hat so ein gutes Herz, wirklich. Sie hat mich liebevoll aufgenommen. Trotzdem vermisse ich natürlich unser Haus.«
»Amy, ich wollte das Haus ja behalten. Nur hatte ich, als Daddy starb, keine Ahnung, wie viele Schulden er mit der Praxis angehäuft hatte. Er hat ja immer das halbe Land kostenlos behandelt. Und von der anderen Hälfte haben es nur herzlich wenige Patienten für nötig gehalten, ihm Geld dafür zu geben.« Sie seufzte, als sie an den ganzen Schlamassel dachte. »Und Dr. Vandermeer war auch nicht besser. Als ich merkte, dass er die Grundsteuer nicht bezahlt hatte, war ich gezwungen, das Haus dem Bezirk zu verkaufen, um …«
»Ist schon gut, Jess. Cole baut mir auf dem Grund neben der Ranch ein schönes neues Haus.« Wieder lachte Amy. »Mrs. Donaldson bekommt immer feuchte Augen, wenn wir über meinen Auszug reden.« Sie lehnte sich nach vorn. »Du bist ja schon so lang fort, und von dem, was du mir geschrieben hast, tja, jedenfalls habe ich Cole erzählt, dass du dich wahrscheinlich blendend amüsierst, in den Theatern und Bibliotheken und so.«
Jessica erforschte ihr Gedächtnis nach allem, was sie Amy über ihr nicht vorhandenes gesellschaftliches Leben erzählt haben könnte. Sie hatte vielleicht ein- oder zweimal erwähnt, dass sie im Theater gewesen war, aber die restliche Zeit … »Das ist nicht der Grund dafür, warum ich dort geblieben bin. Es war …« Sie zögerte einen Augenblick, dann räusperte sie sich und lächelte.
»Ich weiß, wegen deiner Arbeit«, vervollständigte Amy ihren Satz. »Ich glaube, Daddy dreht sich im Grab um. Immerhin hast du ihm versprochen, die Praxis zu übernehmen.«
Jess starrte sie an. Was für eine albtraumhafte Vorstellung. Ja, das war früher einmal ihr Plan gewesen. Aber jetzt? Nach PowellSprings zurückzukehren und Cole Braddock begegnen zu müssen,
als Amys Ehemann
, ihn vielleicht als Patienten behandeln zu müssen? Nach allem, was passiert war?
Jess konnte vielleicht für einen kurzen Besuch gute Miene zum bösen Spiel machen, aber um nach Powell Springs zurückzukommen und dort zu leben, hätte sie schon eine Heilige sein müssen. Ihr Vater würde das sicher verstehen, von wo aus immer er ihr zusah. »Ich glaube, die Stadt kommt auch ohne mich zurecht. Und wenn Cole … dir einen Antrag macht, hast du alle Hände voll damit zu tun, deine Hochzeit zu planen.«
»Ganz bestimmt.« Wieder lag in ihrem Gesicht dieser leicht selbstgefällige Zug.
Kapitel 3
Der Mann, der auf der Kante von Emmalines dünner, durchgelegener Matratze saß, begann sich anzuziehen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er in die Ärmel seines feinen Hemds schlüpfte. Er war länger als üblich geblieben, und nun sah er bereits zum zweiten Mal auf seine Taschenuhr.
»Was glaubt deine Frau, wo du bist, Frank? Unterwegs, um Traktoren zu
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