Heimkehr am Morgen (German Edition)
überrascht mich, dass dein Bruder eingezogen wurde«, bemerkte Jessica. »Ich dachte, er bliebe verschont, weil die Braddocks Pferde an die Armee liefern.«
»So ist es auch«, entgegnete Cole mit harter Miene, »aber er hat sich freiwillig gemeldet.«
»Und seine Frau allein mit der Farm zurückgelassen? Das war wohl die Idee deines Vaters, nehme ich an«, sagte Jessica. Sie hatte Coles Vater nie sonderlich gemocht, denn sie hielt ihn für einen Tyrannen.
»Nein, Riley wollte unbedingt.«
»So wie du eigentlich auch, das weiß ich.« Amy tätschelte Coles Hand. An Jessica gewandt fuhr sie fort: »Aber natürlich konnten nicht beide weggehen. Jedenfalls ist Susannah ganz vernarrt in Mr. Braddock und versucht ihn davon abzuhalten, die Gegend unsicher zu machen. Er wirkt ein bisschen bärbeißig und barsch, aber tief drin ist er ein Schatz. Außerdem hat sie Tanner Grenfell als Hilfe. Und Cole hat zusätzliche Aufträge angenommen.« Als Amy Cole ansah, strahlten ihre Augen vor Stolz und einer neuen Selbstzufriedenheit, die Jess nicht an ihr kannte.
Cole wollte weder Kaffee noch Dessert und verabschiedete sich steif von den beiden Frauen, unter dem Vorwand, er ersticke in Arbeit.
Amy nahm die Hand ihrer Schwester und drückte sie. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Jess. Ich hatte schon Angst, du würdest vielleicht nicht kommen. Vermutlich ist es ein bisschen unangenehm für dich, dass Cole mir den Hof macht.«
Unangenehm war gar kein Ausdruck für das, was Jessica empfand.
An einem Nachmittag vor über einem Jahr hatte sie sich etwas geschworen. An jenem bitteren Tag, als sie das Telegramm in der zitternden Hand gehalten hatte und ihr die Tränen übers Gesichtgelaufen waren, hatte sie den Entschluss gefasst, nie wieder nach Powell Springs zurückzukehren, weil es ihr das Herz brechen würde. Und trotzdem war sie hier.
Aber schließlich hatten Amy und sie keine Angehörigen mehr, abgesehen von der schrulligen alten Großtante Rhea in Nebraska, die ungewollt komische Briefe über merkwürdige Lichter schrieb, die über ihrem Haus schwebten, und kleine graue Männer, die ihre Hühner stahlen. Und sie hatte gelernt, wie tief die Familienbande gingen, tiefer, als sie geglaubt hatte.
Sie zwang sich, den Druck von Amys Hand zu erwidern. Wie sie sich auch gezwungen hatte, heimzukehren. »Was geschehen ist, ist geschehen. Wenn er und ich füreinander bestimmt gewesen wären, hätte er – hätten
wir
nicht unsere – unsere
Abmachung
gebrochen.« Wie sollte sie es sonst nennen? Es war ja nicht offiziell gewesen, sie hatten sich nicht verlobt. Das wollten sie bei ihrer Rückkehr nachholen, aber dann war das Telegramm dazwischengekommen.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin froh, dass es mit dem Besuch geklappt hat. Powell Springs liegt Gott sei Dank so nah an Portland, dass ich auf dem Weg nach Seattle hier Station machen konnte.«
Ihre Schwester lachte nervös auf. »Ja was für ein Glück, nicht wahr? Wir können Zeit miteinander verbringen und alles Versäumte nachholen. Cole hat so viel zu tun mit den Pferden und der Schmiede. Aber ich bin ja auch so eingespannt mit dem Komitee.« Sie senkte die Stimme. »Ich bin sicher, dass er mir in den nächsten Tagen einen Antrag macht, und dann möchte ich schnell heiraten. Wir werden uns in Reverend Jacobsens Kirche trauen lassen mit all unseren Freunden, und ich werde mir Mamas Hochzeitskleid ändern lassen. Für richtige Flitterwochen ist natürlich keine Zeit. Aber später, wenn alles wieder in ruhigen Bahnen verläuft, machen wir eine Reise. Nach der Zeremonie werden wir nur die Hochzeitsnacht hier im Hotel verbringen.« Eine schwache Röte überzog ihre Wangen, und sie senkte den Blick auf ihren Teller. In ihrer Fantasie hatte sich Amy schon alles ganz genau ausgemalt.
Jessica konnte nichts darauf erwidern. Erinnerungsblitze durchzuckten sie, von Coles Lippen auf ihren Lippen, seinen Händen, die vor so langer Zeit ihre sensiblen Körperregionen erkundet hatten, während sie am Powell Creek in der Wildblumenwiese lagen … Auf gar keine Fall würde sie noch hier sein, wenn Cole Amy zum Altar führte. Sie schluckte schwer und lenkte sich damit ab, mehr Zucker in ihren Kaffee zu rühren, als sie eigentlich wollte.
Amy nippte an ihrem Kaffee und stellte die Tasse wieder ab. »Freust du dich wirklich darauf, nach Washington zu gehen?«
Erleichtert über den Themenwechsel entgegnete Jess: »Ja. Ich werde im Forschungslabor des Allgemeinen
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