Heimkehr am Morgen (German Edition)
des Mount Hood, eine Fotografie von Teddy Roosevelt, Schilder mit der Aufschrift
Wir schreiben nicht an
und
Zutritt für Minderjährige verboten
sowie die obligatorischen Kriegsanleihen-Poster. Entlang einer Wand standen einige kleine Tische, an denen alte Männer wie Winks Lamont und Shaw Braddock saßen und an ihrem Whiskey nippten. Die ganze Szenerie war rauchgeschwängert und von Gemurmel untermalt.
Nicht gerade das Delmonico’s, war ihr spontaner, spöttischer Gedanke. Das elegante New Yorker Restaurant konnte illustre Gäste wie Mark Twain, Charles Dickens sowie eine Reihe amerikanischer Präsidenten und Industriekapitäne vorweisen. Bei Tilly’s standen auf Schritt und Tritt Spucknäpfe, und der Boden war mit Sägemehl und Erdnussschalen bedeckt.
Von seinem Posten hinter der Bar entdeckte ein verdatterter Virgil Tilly Jess als Erster. Er zog das Handtuch von seiner Schulter und wischte sich damit die Hände ab. Unter weniger ernsten Umständen hätte sie seine Miene gelinden Entsetzens amüsiert. »Ähm, Miss Layton, Ma’am …”
Als er ihren Namen sagte, starrten alle in ihre Richtung und glotzten. Die Gespräche verstummten.
»Nichts für ungut, aber das hier ist wirklich kein Ort für eine Lady …«
Ohne jedes Vorgeplänkel fiel Jess ihm ins Wort: »Ich brauche einen Mann mit einem Fuhrwerk oder Automobil, der Eddie Cookson nach Hause zur Farm bringen kann. Er ist in meiner Praxis und zu krank, um so weit zu laufen.«
»Was hat er denn?«, fragte Winks.
»Er hat Influenza.«
Mehrere Gäste gaben ihren Kommentar dazu ab.
»Die Grippe? Als er bei der Parade mitgefahren ist, war er doch noch ganz gesund.«
»Ja, genau, er hat gelächelt und überall Hände geschüttelt. Auf mich hat er keinen kranken Eindruck gemacht.«
Ein anderer meinte düster: »He, ich glaube, davon habe ich schon mal gehört. Meine Frau hat letzte Woche einen Brief von ihrer Mutter bekommen. Sie wohnt in Philadelphia, und dort werden die Leute angeblich von der Grippe niedergestreckt wie Weizenhalme im Hagelsturm. In einem Moment geht es ihnen noch gut, und im nächsten klappen sie zusammen. Auf der Straße stapeln sich die Särge, sie können sie gar nicht so schnell unter die Erde bringen. Sie hat geschrieben, die Leute sind ganz blau geworden, und zwar
bevor
sie gestorben sind.«
»Blau – Allmächtiger!«
»Jawohl, blau wie Tinte. Manche so dunkelblau wie der Mitternachtshimmel. Sie hat gesagt, beim Sterben keuchen und röcheln sie wie Ertrinkende. Andere fallen in der Straßenbahn oder auf dem Gehweg tot um, einfach so.« Er schnippte mit den Fingern und fügte in argwöhnischem Ton hinzu. »Es heißt, sie kommt aus Spanien.«
Sofort hatten alle etwas beizutragen. »Ich weiß, was das ist – die Pest! Ist drüben in Europa ausgebrochen.«
»Wird angeblich von Ratten übertragen.«
»Moment mal«, versuchte Jess sich einzuschalten. »Das ist Hunderte Jahre her. Hier handelt es sich um Influenza, nicht um die Pest …«
Die Leute redeten weiter, als hätte sie nichts gesagt.
»Ich hab sie gesehen«, verkündete ein Mann am Ende der Bar. »Ich hab Menschen gesehen, die ganz blau im Gesicht waren und Atemnot hatten.«
»Wo kommen Sie noch mal her, Mister?«, fragte ihn Shaw Braddock.
»Von überall und nirgends. Vor ein paar Jahren war ich eine Weile drüben in Troutdale und Parkridge, aber seitdem bin ich umhergezogen. Dann hatte ich Sehnsucht nach dieser Gegend und bin zurückgekommen.« Der Fremde hatte sich den Hut tief ins Gesicht geschoben, aber was Jess davon sah, kam ihr nur allzu bekannt vor. Sie wusste nicht, wer er war. Aber sie hatte damals im Osten eine Menge Männer wie ihn erlebt – schäbig, unrasiert und so zerlumpt wie ein Jutesack, der an einen Pfosten im Wind flattert. Seine wenigen Besitztümer waren in einen schmierigen Kissenbezug eingewickelt, der auf dem Boden zu seinen Füßen lag.
»Haben Sie Verwandte hier?«, erkundigte sich Winks.
»Schon möglich. Ist eine Weile her, dass ich zuletzt bei ihnen war, aber ich hoffe, dass ich sie finde.«
»Und Sie sagen, Sie haben diese Influenza gesehen?«, bohrte Virgil nach und schenkte ihm noch einen Whiskey ein.
Er nickte dankbar. »Jawohl. Ich hab hier draußen in einem Güterwagen zusammen mit einem Mann übernachtet, der sie hatte. Er hat so aus der Nase geblutet, dass er eine Ginflasche damit hätte füllen können.« Er kippte den Drink hinunter und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Gott bewahre!«
»Das
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