Heimkehr am Morgen (German Edition)
Apothekerwaage, einen Mörser mit Stößel, ein Pillendrehgerät und ein Arzneibuch für die Dosierung und stellte alles auf einen Arbeitstisch. Sie hatte schon seit einer ganzen Weile keine Arzneien mehr gemischt, es aber glücklicherweise nicht verlernt.
Aus dem anderen Zimmer hörte sie Eddies trockenen Husten, Eile war geboten.
Nach wenigen Minuten hatte sie zwanzig Pillen hergestellt und schüttete sie auf ein Blatt Papier, das sie zu einer Tüte faltete. Auf eine Ecke schrieb sie hastig die Einnahmeanweisung.
Nimm alle zwei Stunden eine Pille.
Als sie ins Wartezimmer zurückkehrte, war ihr Patient noch tiefer in seinem Stuhl zusammengesunken, das Thermometer klapperte ihm zwischen den Zähnen. Mein Gott, sie konnte ja förmlich dabei zusehen, wie er immer mehr verfiel. Jessica hatte es bereits mit einer Reihe von Grippefällen zu tun gehabt – der heftige Ausbruch war oft ein charakteristisches Merkmal – aber sie konnte sich nicht erinnern, dass sich bei jemandem, der so kerngesund gewesen war wie Eddie, der Zustand so rapide verschlechtert hatte. Sie steckte ihm die Pillentüte in die Hand.
Das Thermometer, das sie ihm aus dem Mund zog, zeigte 39,4 Grad Celsius.
Sie dachte an das Telegramm aus dem Allgemeinen Krankenhaus in Seattle und hatte plötzlich einen kalten, schweren Klumpen im Magen. »In Camp Lewis gab es auch Kranke, nicht wahr?«
Er macht eine schwache Geste. »Es sind Soldaten mit dem Zug gekommen. Viele von ihnen hatten irgendeine Krankheit. Das Lager ist ziemlich überfüllt. Dort leben sehr viel mehr Männer, als wir eigentlich unterbringen können. Wir stapeln uns regelrecht. Aber der Sanitätsoffizier hat gemeint, es gebe keinen Anlass zur Sorge. Da habe ich mir keine Gedanken mehr darüber gemacht …« Wieder wurde er von einem Hustenanfall unterbrochen.
Jessica teilte den Optimismus des Sanitätsoffiziers nicht. Als sie noch für den Gesundheitsdienst gearbeitet hatte, war sie über sämtliche grassierenden Epidemien auf dem Laufenden gewesen. Aber seit sie New York verlassen hatte, hatte sie sich bewusst von allen äußeren Einflüssen abgeschottet. In Saratoga Springs hatte sie weder Zeitung gelesen noch auch nur einen Blick auf die Schlagzeilen geworfen. An diesem grünen, friedlichen Ort hatte sie den Krieg und die Welt ausschließen wollen, um zu vergessen. Jetzt holte sie ihre selbstauferlegte Isolation wieder ein, und sie wusste, dass sie einen riesigen Fehler gemacht hatte.
Sie fühlte ihm die Stirn. Er glühte vor Fieber, und ihre Sorge wuchs. »Nimm die Pillen, die ich dir gemacht habe. Sie dürften gegen den Husten und die Schmerzen helfen. Ich habe auf die Tüte geschrieben, wie du sie einnehmen sollst.«
Er nickte dankbar, offenbar hatten ihn alle Kräfte verlassen.
»Wie kommst du nach Hause? Ist dein Vater noch im Büro?«
»Glaub nicht. Ich wollte zurücklaufen …«, beteuerte er noch einmal.
Ihren Ärger über Horace Cooksons Gleichgültigkeit unterdrückend sagte sie: »Ich besorge dir jemanden, der dich nach Hause bringt. In deinem Zustand würdest du es ja nicht einmal über die Straße schaffen.« Sie wartete ab, ob ihre Worte bei ihm angekommenwaren. »Du bleibst hier«, fügte sie eindringlich hinzu, dann zog sie die Tür auf.
Die Sonne stand rotgolden am westlichen Horizont, bald würde die Nacht anbrechen. Wie in den meisten Kleinstädten saßen die Menschen um diese Zeit zu Hause beim Abendessen, es war kaum noch Verkehr auf der Straße. Sogar Granny Mae hatte ihr Café für heute geschlossen.
Die ungepflasterte Straße war übersät mit den Überbleibseln des Tages – Krepppapier und Handzettel, hie und da eine Schleife oder ein paar amerikanische Fähnchen, die kleine Kinderhände verloren hatten. In der Hoffnung, irgendjemanden zu finden, der Eddie nach Hause bringen konnte, sah sie sich um. Aber der einzige Ort, wo noch etwas los war, war Tilly’s Saloon am Ende der Hauptstraße. Davor standen ein Automobil und einige Pferde und Fuhrwerke.
Sie steuerte auf das Lokal zu, vorbei an den verdunkelten Fenstern der Eisenwarenhandlung und Bright’s Lebensmittelgeschäft. Ihre weiße Schürze flatterte ihr um die Röcke. Energisch riss sie die Fliegengittertür auf und trat ein. Einige Gäste standen an der Bar, teilweise mit einem Fuß auf der Messingstange unten am Tresen. Hinter der Bar ein Sammelsurium aus aufgereihten Flaschen, Geweihen und ausgestopften Elchköpfen. Dazwischen Gemälde der in der Nähe liegenden Multnomah Falls und
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