Heimkehr am Morgen (German Edition)
klingt übel. Die Pest – na dann, gute Nacht! Damit möchte ich nichts zu schaffen haben.«
»Ich auch nicht. Die ist ansteckend.«
Aber die Zuhörer drängten sich dichter um den Mann, offenbar begierig auf noch grauenvollere Einzelheiten. Die Möglichkeit, dass auch er selbst infiziert sein könnte, kam ihnen gar nicht in den Sinn, oder sie waren um der Geschichte willen bereit, es zu riskieren.
Hier wurde mal wieder maßlos übertrieben und dramatisiert, fand Jess. Irgendeine Tante Soundso hatte jemanden erzählt, dass einer entfernten Verwandten der Blinddarm entfernt worden war, und nachdem die Geschichte zum dritten oder vierten Mal die Runde gemacht hatte, hatte der Blinddarm auf einmal Haare und Zähne und verwandelte sich in einen nicht entwickelten Zwilling, den die Betreffende dreißig Jahre lang mit sich herumgetragen hatte. Auf diese Weise wurden aus haltlosen Gerüchten Tatsachen. Jetzt hieß es also, die Grippekranken liefen blauschwarz an, bluteten aus der Nase und fielen tot um. Es gab durchaus Anlass zur Sorge, natürlich, aber das Telegramm aus Seattle hatte weit weniger spektakulär geklungen.
»Es ist
nicht
die Pest. Es ist nur die Grippe«, beharrte sie. In einem Punkt stimmte sie jedoch überein. »Ja, sie kann ansteckend sein. Trotzdem heißt das nicht, dass derjenige, der Eddie nach Hause bringt, unbedingt krank wird.«
Keiner meldete sich freiwillig.
»Mag ja sein, aber ich hatte sie letzten Winter und musste eine Woche lang das Bett hüten«, erklärte einer der Gäste. Sie kannte den Mann nicht, der ihr gesund und kräftig vorkam. Er musste vom Kriegsdienst befreit sein. »Ich kann es mir nicht leisten, sie mir noch einmal einzufangen.«
»Vielleicht sind Sie durch die Erkrankung letzten Winter immun«, wandte sie ein. Das wusste sie zwar nicht sicher, doch inzwischen war sie verzweifelt.
»Muss schon sagen, dein Vorschlag klingt ja wirklich verlockend,
Frau Doktor
«, bemerkte Shaw spitz. »Du kannst krank werden und sterben, vielleicht aber auch nicht.« Er knackte eine Erdnuss, warf sich den Inhalt in den Mund und ließ die Schalenauf den Boden fallen. »Wenn auch nur die Hälfte davon stimmt, was dieser Bursche hier erzählt hat – Wie heißen Sie eigentlich?«
»Bert Bauer«, antwortete der zerlumpte Kerl. Er bedeutete Tilly, noch einmal einzuschenken, und jammerte: »Hab höllische Zahnschmerzen.«
»Wenn auch nur die Hälfte von dem, was Bert hier sagt, stimmt, steht uns wohl ein Riesenhaufen Ärger bevor. Da müssen wir nicht auch noch im Galopp darauf zustürmen.«
Verblüfft und zornig über den augenscheinlichen Mangel an Mitgefühl trat Jess weiter in den Raum. Die Sägespäne und die Erdnussschalen knirschten unter ihren Schuhen. Da hatten sie mit ihrem patriotischen Getue so einen Wirbel um Eddie gemacht, als einer von ihnen in Uniform, und nun eierten sie herum, starrten in ihre Drinks und murmelten vor sich hin. Ihr Blick fiel auf das Kriegsanleihen-Poster an der Wand, und da kam ihr eine Idee.
»Dieser Soldat hier hat in Camp Lewis dafür trainiert, nach Europa zu gehen und für Amerika zu kämpfen, und jetzt, wo er euch braucht, zeigt ihr ihm die kalte Schulter?« Sie wusste, dass das angesichts ihrer eigenen Einstellung zum Krieg heuchlerisch war, aber sie wusste auch, wie diese Männer gestrickt waren. Schließlich war es nicht Eddies Schuld, dass man ihn eingezogen hatte. Weiterhin murmelten sie vor sich hin und wichen ihrem Blick aus, und noch immer bot niemand seine Hilfe an. »Was soll ich ihm sagen, wenn ich wieder in der Praxis bin? Dass seine Freunde und Nachbarn mit Fahnen wedeln, wenn er kommt, ihn aber in der Not seinem Schicksal überlassen? Ich verlange doch nur, dass ihn jemand nach Hause bringt. Wenn ich könnte, täte ich es selbst.«
Keiner sagte etwas darauf, und das Schweigen stachelte ihre Wut noch mehr an.
»Will denn keiner diesem Jungen helfen?«
»Ich helfe ihm.«
Jess wirbelte herum. Durch die Fliegengittertür erkannte sie Cole Braddock. Er zog die Tür auf und trat in den Saloon. Der Raum schien von seiner Präsenz zu knistern, und ihr wehte ein Hauch von Leder und Heu in die Nase, der die typischen Kneipengerüche überdeckte.
»Ich bin eigentlich hier, um meinen alten Herrn abzuholen«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf seinen Vater. »Aber ich denke, er kann warten, bis wir uns um Cookson gekümmert haben. Ich habe den Lastwagen draußen. Zuvor muss ich allerdings Amy nach Hause bringen.«
Jess blickte
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