Heimkehr am Morgen (German Edition)
ihn nach oben in den Wohn- und Essraum und deutete auf den Tisch. »Bitte … nimm Platz.« Während er das Essen auswickelte, holte sie Teller und Besteck aus der Anrichte, und Horace Cooksons Butter. »Tut mir leid, aber ich habe nicht die passenden Gläser.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Whiskeyflasche.
»Macht nichts, wir veranstalten hier ja kein vornehmes Dinner.«
Sie stellte zwei einfache Gläser auf den Tisch und füllte ihres mit Leitungswasser.
»Setz dich doch«, sagte er und stieß den zweiten Stuhl mit dem Fuß an.
Jessica kam seiner Aufforderung nach. Beim Essen machten sie nur oberflächliche Konversation. Sie erkundigte sich nach der Farm und seiner Familie. Er fragte, ob ihrer Einschätzung nach der Höhepunkt der Grippeepidemie jetzt überschritten sei.
»Ich bin mir noch nicht sicher«, entgegnete sie und spießte das letzte Stück Kartoffel auf die Gabel. »Es
könnte
sein, dass sie abflaut. Diese Woche hatte ich im Krankenhaus weniger neue Fälle, aber ob das bereits eine Tendenz anzeigt, lässt sich schwer sagen. Nächste Woche bin ich klüger. Bei solchen Dingen weiß man nie.« Sie begann, ihm den möglichen Verlauf einer Epidemie zu beschreiben, und gab ihm Informationen weiter, die sie aus dem Osten erhalten hatte. Als er sie mit seinen durchdringenden blauen Augen ansah, merkte sie, dass sie plapperte, weil sie das unvermeidlicheGespräch über den Grund seines Besuchs hinauszögern wollte.
Er schob den Teller beiseite, entkorkte die Whiskeyflasche und goss sich fünf Zentimeter der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. Mit einem Zug kippte er die Hälfte hinunter, zog die Luft zwischen den Zähnen ein und stellte das Glas ab. Dann griff er in seine Hemdtasche, holte das ihr wohlbekannte Telegramm heraus, faltete es auseinander und legte es auf den Tisch. Es lag wie ein drei Tage alter Fisch zwischen ihnen, ehe er es mit dem Zeigefinger festnagelte.
»Ich habe dir dieses Telegramm nicht geschickt.«
Sie warf einen Blick darauf und glättete dann nervös die Serviette auf ihrem Schoß. »Das hast du mir bereits gesagt.«
Sein Blick war stetig und fest – sie konnte ihn spüren, auch wenn sie ihn nicht ansah. »Ich war bei Leroy Fenton, um herauszufinden, wer es war.«
Sie lachte gezwungen auf. »Ach, Leroy kann sich nach all der Zeit bestimmt nicht mehr daran erinnern. Er ist nicht mehr der Jüngste.«
»Er konnte sich sogar noch sehr gut erinnern. Ganz im Gegenteil, er hat
mich
gefragt, ob mich mein Gedächtnis im Stich lässt.« Dann schilderte er ihre Begegnung. »Daraufhin hat er mir erzählt, wer ihm das Telegramm verschlossen in einem Umschlag gebracht und die Gebühren bezahlt hat.«
Jessica beugte sich vor. »Und?«
Er nahm das Glas und trank den restlichen Whiskey. »Es war Amy.«
Sie sprang so heftig auf, dass der Stuhl nach hinten kippte. »Amy! Cole, das soll ich dir glauben? Wie kannst du es wagen, hierherzukommen und mir so eine gemeine Lüge über meine eigene Schwester aufzutischen?«
Er wurde nicht laut. Er setzte sich nur im Stuhl zurück und sah sie an. »Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest, aber es ist keine Lüge. Glaub mir, ich dachte mir auch, Leroy hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, als ich das hörte. Dann beschrieb erden Tag jedoch mit so vielen Einzelheiten, dass es stimmen musste. Und es ergab auch einen Sinn. Ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht.«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn!« Er saß so kühl und ungerührt da, als würden sie über das Wetter plaudern. Bei ihr hingegen kam der Atem stoßweise, und sie hörte das Blut in den Ohren rauschen. »Wie kannst du da sitzen, in aller Ruhe an deinem Whiskey nippen und mir dieses – dieses grauenvolle
Märchen
erzählen, als würdest du im Saloon den Haferpreis diskutieren?«
Er runzelte die Stirn. »Es ist kein Märchen, und ich bin nicht ruhig. Es nagt an meinen Eingeweiden. Als ich es erfahren habe, musste ich kotzen, und nachts mache ich kaum ein Auge zu.« Erneut griff er in seine Tasche und förderte ein weiteres Stück Papier zutage, eines, auf dem Jessica den Briefkopf der Western Union erkannte. »Lies das.« Er schob es über den Tisch, und sie riss es an sich.
Ich, Leroy Fenton, schwöre, dass ich an Miss Jessica Layton eine Nachricht telegrafiert habe, unterzeichnet von Mr. Cole Braddock und in einem verschlossenen Umschlag bei mir abgegeben von Miss Laytons Schwester Amy, und zwar am 20. Mai 1917.
Unter dem schwer leserlichen Gekritzel standen
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