Heimkehr am Morgen (German Edition)
falschen Vermutung und der ungewollten Bilder, die ihr durch den Kopf geschossen waren. »Deine Wortwahl war ein bisschen zweideutig.« Sie trank noch einmal von ihrem verdünnten Whiskey, und die Spannung begann aus ihren Gliedern zu weichen.
»Ich meine damit, dass sie ihre … Kampagne, um mein Interesse auf sich ziehen, so könnte man es wohl nennen, intensiviert hat.« Er zuckte die Achseln. »Sie hat angefangen,mich so zu betütern wie Pop. Es sei eine Schande, dass dir deine Arbeit wichtiger sei als unsere geplante Verlobung, meinte sie, und dass du mich wie einen Fisch an der Angel zappeln lassen würdest …«
»Das hat sie tatsächlich gesagt?«, wollte Jess wissen, unfähig, ihre Verachtung zu verbergen.
»Ja.«
»Ich nehme an, du warst ihrer Meinung.«
»Wie gesagt, ich war über die Situation nicht glücklich – überhaupt nicht. Und du hast mir keinen guten Grund genannt, warum du nicht heimgekommen bist. Wenigstens keinen, den ich akzeptieren konnte.«
Sie begann, nervös mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. »Lassen wir das. Außerdem waren wir gar nicht ›verlobt‹. Wir hatten bestenfalls eine Abmachung.«
Er hob leicht die Hand, um ihr rechtzugeben.
»Dann kam dein Telegramm. Ich dachte an alles, was passiert war und was Amy mir erzählt hatte. Du bist nicht nach Hause gekommen, und du hast dich mit diesem Mann getroffen, Andrew Stafford.«
»Stavers, und ich habe mich nicht mit ihm …«
»Wie immer er heißt. Ja, ich habe angefangen, mich wie ein Fisch an der Angel zu fühlen.«
Sie runzelte die Stirn, aber nicht mehr ganz so finster. Allmählich nahm das, was er sagte, in ihrem Kopf Gestalt an und ließ ihr Herz zu Eis erstarren.
»Riley verließ uns und ging zur Armee, und Susannah war ziemlich niedergeschlagen. Ich auch, angesichts der Umstände. Amy wurde unser Sonnenschein. Sie hat uns aufgemuntert.« Er hob hilflos die Schultern. »Ich fing an, ihr den Hof zu machen. Und ehe ich michs versah, dachte sie, dass ich sie heirate.«
»Du hast ja nicht gerade viel Zeit verloren, was?«, bemerkte Jessica spitz. »Hast du nie daran gedacht, mir wegen des Telegramms zu schreiben?« In ihrem Ton lag immer noch eine gewisse Schärfe, doch er schaute sie ruhig und unverwandt an.
»Ein Dutzend Mal, aber ich brachte es nicht über mich. Und was ist mit dir? Hast du daran gedacht, mir wegen des Telegramms zu schreiben, das
du
bekommen hast?«
Sie hob eine Augenbraue und lächelte ihn spröde an. »Ja, nur dass ich mir nicht viel davon versprach. Ich war so verletzt und wütend, dass ich dich bloß noch anschreien wollte. Vielleicht bin ich immer noch wütend.«
Er leerte sein Glas. »Dennoch sind wir jetzt hier, Jess. Am Ende eines langen Weges, den wir nie beschreiten wollten, durch die Schuld von jemandem, der seinen Kopf durchsetzen wollte. Und ich glaube, es war ihr egal, wen sie damit verletzen würde.«
Jess trank noch einen Schluck. Tränen brannten ihr in den Augen, und sie wühlte in ihren Taschen nach einem Taschentuch, fand jedoch keines. Sie glaubte Cole, aber das war alles so schwer zu akzeptieren. Es war schier unvorstellbar, dass ihre eigene Schwester einen derartigen Verrat begangen hatte. »Ich habe das Gefühl – als würden wir über eine Fremde reden. Das ist nicht meine Schwester, wie ich sie kenne. Das kann nicht sein. Amy würde so etwas nie tun.«
»Das dachte ich auch. Wir haben uns geirrt.«
»Liebst du sie?« Ihre Worte waren nur ein Flüstern.
Er schloss kurz die Augen, wie um zu überlegen, ob er lieber lügen oder die Wahrheit sagen sollte. »Ich habe versucht mir einzureden, dass ich sie liebe.«
Sie wischte sich mit dem Daumen die Augenwinkel. »Es hatte jedenfalls ganz den Anschein. Diese neuen Kamee-Ohrringe, die sie mir gezeigt hat, die sie immer noch trägt – wer einem so etwas schenkt, ist mehr als ein Freund.«
Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich habe sie ihr an dem Tag gekauft, an dem ich deine Sachen vom Hotel in die Praxis gebracht habe. Ich … nun …«
»Nun?«
»Ich hatte Schuldgefühle, weil ich vom ersten Augenblick an, als ich dich bei Granny Mae wiedersah, wusste, dass ich mir etwas vormachte. Als sie dann krank wurde und vor mir auf diesem Feldbettlag – damals kannte ich die Geschichte mit dem Telegramm noch nicht –, fühlte ich mich wie der größte Schuft der Welt. Schließlich lieben alle Amy. Warum ich nicht?«
»Warum du nicht?«
»Weil ich nie über dich hinweggekommen bin. Und wenn es etwas
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