Heimkehr in Die Rothschildallee
winziges, gehäkeltes Püppchen mit langen schwarzen Ohrringen gebunden, auf den Tabak Zigarettenpapier.
»Wenn ich nur ein Armband bekomme, bin ich nie mehr ungezogen«, versprach Sophie. »Nie, nie, nie mehr in meinem ganzen Leben. Ich hole jeden Tag die Kohlen aus dem Keller und hacke Holz.«
»Und deinen Bruder verdrischst du auch nicht mehr«, empfahl ihr Vater.
Fanny zupfte am Ohrring einer Häkelpuppe im gestreiften Trägerrock. »Und wenn ich ein Armband bekomme«, schwor sie, als sie Kind wurde, »lerne ich sämtliche unregelmäßigen Verben auswendig, die es in Französisch gibt.«
»Ich wünsche mir den gelben Ball, der so gut riecht«, sagte Erwin leise. Er hielt die Zitrone an seine Nase und hatte die größten Bettelaugen, die er je gehabt hatte. »Den tu ich nicht werfen, ich will ihn nur riechen. Und haben.«
»Sie war ja noch nicht einmal imstande«, schniefte Betsy, »ihr Zimmer aufzuräumen oder einen Knopf anzunähen, ihre Schulhefte sahen zum Gotterbarmen aus, und wenn sie sich über irgendetwas Gedanken machte, dann nur über ihre Frisur oder ob ich sie in einem weißen Kleid in die Schule lassen würde. Und jetzt wickelt sie Schokolade in Nylonstrümpfe und häkelt Püppchen und kann sich genau vorstellen, woran es uns fehlt. Schaut mal, roter Pfeffer und Senfpulver!«
»Und Zimt«, freute sich Anna. Sie hielt eine kleine rote Büchse mit gelber Schrift hoch.
»Nein, da steht Backpulver drauf, falls ich’s richtig übersetzt habe. Ich hatte ja total vergessen, dass es so was wie Backpulver gibt.«
Unter dem Paket mit dem Biltong klebte ein großes, nicht verschlossenes Couvert. Betsy holte ein koloriertes Foto heraus. Zunächst hatte sie nur Augen für ihre Tochter. Alice trug immer noch weiße Kleider. Mit dem breiten Stoffgürtel und dem schwingenden Rock, der ihr bis zu den Fesseln reichte, entsprach es absolut dem viel bewunderten New Look von Dior in Paris. Sie sah stolz und fröhlich aus. In ihrem schulterlangen Haar steckte ein breiter roter Reif, auf dem Arm hatte sie einen schwarz-weißen Spanielwelpen, der die Zunge heraushängen ließ. Zwischen ihr und Leon standen vier Kinder – drei Jungen und ein etwa zweijähriges, sehr hübsches, schwarzhaariges Mädchen, das beim Lachen sämtliche Zähne zeigte und so aussah wie Alice im gleichen Alter. Leon in Khakihosen, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und dem Käppchen auf dem Kopf, das fromme Juden sowohl im Haus als auch in der Öffentlichkeit tragen, sah erstaunlich jung und spürbar tatenfroh aus. Er wirkte wie der Bruder seiner Kinder. Auch die drei Buben trugen Käppchen; alle waren sie gleich gekleidet – kurze graue Hosen, weiße langärmelige Hemden und blau-weiß gestreifte Krawatten.
»Ich glaube, in Südafrika tragen sie Schuluniform«, fiel es Betsy ein. »Im Altersheim hat mir das mal eine Frau erzählt, deren Sohn nach Johannesburg auswandern konnte.«
Der mittlere Junge, der als Einziger der Familie ein ernstes Gesicht machte, hielt das kleine Mädchen an der Hand. Die Einvernehmlichkeit von Bruder und Schwester erinnerte Betsy an Otto, der auf allen Familienfotos Victoria genauso gehalten hatte. Ab diesem Moment ersparte ihr das Gedächtnis kein Bild. Der Kalender mit dem prophetischen Tagesspruch »Wer Funken sät, wird Flammen ernten« zeigte den 19. August 1914. Otto saß am Frühstückstisch, sein Tornister war gepackt. Er trank zwei Tassen Kaffee, doch das Karlsbader Hörnchen und die Mohnbrötchen, die Josepha schon um sieben Uhr morgens beim Bäcker auf der Berger Straße geholt hatte, rührte er nicht an. »Wenn ich zurückkomme, Josepha. Da backst du mir einen Zwetschenkuchen, der sich gewaschen hat, und der Herrscher aller Reußen isst ihn ganz allein.«
»Jeder Stoß ein Franzos«, jauchzte Victoria.
»Beim Frühstück wird heute nicht gesungen, Vicky!« Sie war sechs Jahre alt und hatte den ersten Zahn verloren, ihr Bruder war noch nicht ganz achtzehn und träumte vom Eisernen Kreuz. Er fuhr vom Ostbahnhof direkt in den Krieg. Drei Monate später fiel er an der Westfront.
»Alice«, schluckte Betsy, »ist trotz der vier Kinder so schlank und schön wie früher. Fast«, verbesserte sie. Es erschien ihr undankbar, im Moment von Gottes Gnade nicht bei der ganzen Wahrheit zu bleiben.
»Sie ist noch schöner geworden«, widersprach Anna. »Sie sieht immer noch aus wie Schneewittchen. Mein Gott, was habe ich sie bewundert.«
Der Brief lag auf dem Boden des Pakets, festgeklebt an ein weißes
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