Heimkehr in Die Rothschildallee
Rat«, erzählte Baumann, wenn er genug Zeit für seinen Rückblick hatte, »so schlecht angesehen, wie heute behauptet wird, war der deutsche Soldat nicht. Wahrhaftig nicht.«
Nicht nur Spatzen und Blaumeisen, auch Kinder und Optimisten waren hochgestimmt. Zum ersten Mal im Jahr durften die Buben kurze Hosen tragen. Auf der Straße kickten sie verbeulte Konservendosen in Tore, die sie mit ihren Jacken markierten. Hatten sie die Dosen platt getreten oder waren sie von grantigen alten Frauen, die um ihre Hausmauern und Fenster fürchteten, vertrieben worden, spielten sie auf den Trümmern Hamsterer und Polizei. An den Zweigen, mit denen sie aufeinander einschlugen, wuchs das erste Frühlingsgrün.
Die Mädchen führten Puppen aus, die noch genug Garderobe aus guter Zeit und fein Gestricktes aus Wollresten hatten, um auf Spaziergängen Staat zu machen. Für die Ostervasen ihrer Mütter pflückten artige kleine Töchter die hübschen gelben Blumen, die besonders gut in Ruinen gediehen. Sophie erklärte Kameradin Lena, weshalb künftig keine grünen Bonbons mehr in der Jackentasche vom spendablen Onkel Fritz zu erwarten wären. »Er ist«, erläuterte das kluge Kind, »jetzt ein Richter. Er darf nur noch schreiben und aus dem Fenster gucken. Und böse Leute verhauen.«
»Du hast immer Glück«, seufzte Lena, »immer.«
»Ich bin ja auch kein Flüchtling.«
Am Morgen hatten die Zeitungen gemeldet, der Wiederaufbau des stadtbekannten Hotels »Frankfurter Hof« schreite im erwarteten Umfang voran, der beliebte Schauspieler Hans Söhnker hätte sich zur Premiere von »Film ohne Titel« in Frankfurt angesagt, und das Wort »Trizone« komme immer mehr in Gebrauch – der wirtschaftliche Zusammenschluss der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen wurde als Trizone bezeichnet. Obwohl die Aussprache des Wortes ihr Schwierigkeiten machte, sang Sophie schon seit Februar den Schlager »Wir sind die Einwohner von Trizonesien«. Er wurde im Radio ebenso oft gespielt wie »Die Capri-Fischer« und »Du bist die Rose vom Wörthersee«.
Als die nahe Kirchturmuhr elf schlug, fand Sophie einen weißen Puppenschuh auf der Straße. Sie beschloss, ihn der Besitzerin, die sie gut kannte und in der ganzen Straße als ein feiges Mamakind diffamierte, nur im Austausch gegen deren rote Zopfspangen zurückzugeben; den aparten Haarschmuck hatte Sophie seit Weihnachten im begehrlichen Blick. Genau eine Stunde später holte Anna eine Mitteilung der städtischen Paketpost aus dem Hausbriefkasten, die sie, wie alle amtlichen Schreiben, im ersten Moment in Panik versetzte.
Gerichtet war die Benachrichtigungskarte an Frau Betsy Sternberg. Der wurde mitgeteilt, dass auf dem Zollamt am Dom ein Paket aus dem Ausland für sie lagere. Es müsse dort persönlich und »unter Vorlegung der amtlichen Kennkarte abgeholt werden und wird nach einer Aufbewahrungszeit von zehn Tagen unverzüglich an den Absender zurückgesandt«.
Das Zollamt war nur morgens geöffnet. Die Empfängerin, die bis dahin noch nie eine Sendung aus dem Ausland erhalten hatte und die noch nicht einmal wusste, dass es in Frankfurt ein Zollamt gab, konnte sich also nicht umgehend auf den Weg machen. Unbehagen und eine Unruhe, die sie da bereits als einen körperlichen Schmerz empfand, setzten ihr so zu, als müsste sie Entscheidungen von lebenswichtiger Bedeutung treffen. »Ich würde die beiden Seifenstücke hergeben, die mir Fritz noch im PX besorgt hat, und das ganze Aspirin, das ich noch habe«, sagte Betsy, als sie beim Mittagessen den steinharten Brei aus Maisgrieß und Zwiebeln mit Messer und Gabel attackierte, »wenn ich schon heute auf das verfluchte Zollamt gehen könnte. Ich weiß wirklich nicht, wie ich diese Ungeduld bis morgen aushalten soll.«
»Tut Ungeduld weh?«, fragte Sophie. Sie hatte in den quittegelben Grießberg einen Tunnel gegraben und war dabei, die mit gerösteten Kartoffelschalen tiefbraun eingefärbte Mehltunke durch ihr Meisterwerk zu leiten.
»Noch schlimmer als Ungeduld ist es, wenn man nicht richtig aufpasst und plötzlich rückwärts läuft«, erklärte ihr Betsy. »Wenn man dann hinfällt, tut das ganz schlimm weh.«
Sie sah Victoria im rosa Kleid und mit einer großen weißen Schleife im Haar in Baden-Baden an der festlich gedeckten Mittagstafel im Hotel zum Hirsch sitzen. Die Sechsjährige ließ die feine Hollandaise über einen Hügel aus aufgeschichteten Möhren fließen. »Vicky, lass das! Auf der Stelle! Mit Essen wird
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